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Eine weitere Woche später jedoch schickte Tim mir eine Karte aus New York. Darauf stand, dass er verstehen könnte, wenn ich nicht mehr auf ihn warten würde. Er hätte sich nicht getraut, mir von New York zu erzählen, weil er befürchtete, ich würde zusammen brechen und das hätte er nicht ertragen, aber seine Gefühle wären immer noch die selben wie vor der Pause. Es wäre hilfreich gewesen, schrieb er, mich nicht permanent im Kopf zu haben, aber auch quälend. Mit Mühe und Not hatte er seine Prüfung bestanden, jedoch den Praktikumsplatz an der Pariser Eliteschule verloren, da es weitaus bessere Anwärter als ihn gäbe und so hatte er sich für New York entschieden. Wenn es mir nicht zu sehr schmerzte, könne ich ihm schreiben.

Erst war ich natürlich wütend und wollte die Karte fast zerreissen. Fast gleichzeitig war Post von Lucas gekommen, der fragte, ob ich im Herbst noch einmal nach La Rochelle kommen wolle. Er hätte Vieles mit mir zu besprechen, was ihm auf der Seele läge und er wisse, er habe sich mir gegenüber beschissen benommen. Alex schrieb, dass Lucas und Marie sich getrennt hätten und ich roch sofort Lunte. Dennoch sagte ich zu, allein, weil Nicole und Marc sich ebenfalls darüber freuten, wenn ich sie besuchte, und schrieb Tim einen langen Brief. Das ich nicht verstehen könne, warum nicht wenigstens mal eine kleine Notiz von ihm gekommen war, nach allem, was wir hatten. Ich hätte einen Monat ohne Lebenszeichen ertragen, schrieb ich, aber nun waren es fast drei, ohne, dass er mich darüber aufgeklärt hätte, ob seine Liebe bereits erloschen wäre. Ich schrieb, dass ich im Herbst nach La Rochelle reisen würde und hoffte, dass er es als Chance nehmen würde, mich dort wieder zu sehen. Mein Brief kam allerdings wieder zurück- unbekannt verzogen. Ich rief Nicole an, sie war völlig überrascht. Wieder hörte ich nichts von Tim, und dieses Mal seine Eltern auch nicht. Bis zum Herbst, als ich nach La Rochelle fuhr und alles anders war.

Lucas war plötzlich so süß zu mir, dass ich wirklich ins Schleudern kam. Er entschuldigte sich aufrichtig bei mir, gab sich Mühe, unternahm jeden Tag etwas mit mir, wir hatten sogar richtig Spaß miteinander. Doch als er versuchte, mich zu küssen, ergriff mich die Panik und ich reiste ab. Zuhause wartete ein Stapel Briefe auf mich, die aus Asien kamen.

„Liebe kleine Besatzerin," schrieb Tim- vor einem Monat!, „ entschuldige, dass du mich wieder nicht erreichen konntest. Ich bin in Singapur. Frag nicht, wieso, es ist mir peinlich. Ich weiß, das war bisher kein Grund, mich dir nicht anzuvertrauen... Ich werde es versuchen. Die Wahrheit ist- ich liebe dich, aber ich bin tatsächlich ein Versager, auf der ganzen Linie. Es war mir so verdammt peinlich, durch die Prüfung gerauscht zu sein, ich wollte dir ein Leben bieten, doch plötzlich waren alle meine Pläne dahin. Nun war ich ein arbeitsloser, halbfertiger Lehrer und bekam das Angebot aus New York, dachte, dort mache ich alles wieder gut und komme dann als strahlender Held zurück, sammele dich ein und heirate dich. Aber in New York kamen die Mailand- Erinnerungen wieder hoch- ja, ich bin zu sensibel, Yumi hatte so recht! Ich brauche meine Heimat und habe wieder einmal auf chemische Hilfe zurück gegriffen, um die Sehnsucht und Traurigkeit abzudämpfen, deshalb die schräge Karte aus New York, wo ich dir nur halbherzig erklärt habe, was los war...ich weiß nicht mal mehr, was ich geschrieben habe...es tut mir leid, verzeih mir bitte!

Sina...in New York ist alles noch viel schlimmer geworden. Nichts mit Ruhm und Ehre- sie haben mich vom Unterricht suspendiert, weil ich zugedröhnt unterrichtet hatte, was mir so peinlich ist, dass ich es nicht mal meiner Familie erzählt habe. Sag ihnen bitte, dass es mir gut geht und ich sie liebe, aber ich kann ihnen nicht unter die Augen treten. Ich musste schon sehr viel Mut zusammen nehmen, um dir zu schreiben, aber jetzt, wo alles fließt, fühlt es sich gut an. Vielleicht hab ich es ja nicht so sehr vermasselt, dass wir beide irgendwann wieder Freunde sein können?

Aber nun will ich dir erklären, warum ich trotz Heimweh am anderen Ende der Welt gelandet bin. Ich hab mich doch damals über Charlotte lustig gemacht- nun ist sie diejenige, die mir geholfen hat und mir den Job hier vermittelt hat- ich bin in den großen Metropolen nicht gut genug, aber hier, in diesem armen Land, freuen sie sich, wenn ein Sourbonne- Absolvent Straßenkindern Unterricht gibt. Und die Kinder geben es mir hundertfach zurück. Hier brauche ich keine Drogen, obwohl es sie im Übermaß gibt, hier darf ich ich selbst sein. Komme gerade so zurecht, um nicht zu verhungern, also, meine Liebste, ich kann mein Versprechen immer noch nicht halten, aber ich denke, das willst du auch gar nicht mehr. Ich schätze, dein Vater wird mich nun auch nicht mehr wollen. Nein, viel wichtiger ist, was du empfindest, ob du mich jetzt hasst, ich hätte es verdient, kleine Besatzerin. Ich habe in letzter Zeit sehr viel darüber nachgedacht, ob wir auf irgendeine Art noch zusammen sind, da ich die Verlobung ja nie gelöst habe und ob ich dich in New York im Rausch betrogen habe, oder nicht. Es fühlt sich so an. Mir war richtiggehend schlecht, als ich am nächsten Morgen neben dieser Frau aufgewacht bin, es war, wie in Mailand, Mailand reloaded, die Hölle schlechthin. So weit entfernt, von dem, was wir uns erträumt hatten und doch habe ich weiter gemacht, weil ich dachte, nur so geht es. Wenn ich mein Zertifikat in der Tasche habe, stehen mir alle Türen offen und du kannst stolz auf mich sein. Und nun haßt du mich, nun habe ich dir doch weh getan.

tenebras luxWo Geschichten leben. Entdecke jetzt