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Nach meinem Entschluss weiterzuleben änderte sich einiges. Der Sohn meines Herrn war jetzt relativ freundlich zu mir, was mich überraschte, da er ja vorher auch bedenkenlos auf mich eingeschlagen hatte. Er achtete penibel darauf, dass ich Nahrungsmittel zu mir nahm, und gab mir hin und wieder sogar etwas Süßes. Ich hätte nicht gedacht, dass ich je wieder Schokolade essen würde, aber er drückte mir eines Tages eine Tafel Nussschokolade in die Hände, als wäre nichts dabei. Auch meinen Herrn selbst nahm ich mit neu gewonnener Gelassenheit hin, es war immer noch abscheulich, wenn er mich missbrauchte, aber der Gedanke, dass ich damit andere schützen konnte, war sehr präsent und verdrängte beinahe was mit mir geschah. Auch die Schläge, die ich bekam, versuchte ich mit Geißelung in Verbindung zu bringen. Wenn Nonnen das machten, um Gott näher zu kommen, dann konnte ich gewiss irgendetwas erreichen. Der Sohn redete recht viel mit mir, was mich nicht weiter störte, was aber nicht hieß, dass ich ihm auch zuhörte. Ich mochte es, dass er mir Aufmerksamkeit schenkte, aber ich konnte nicht über die Umstände hinwegsehen. Er schien zu respektieren, dass ich zu keinerlei Körperkontakt bereit war, denn jedes Mal, wenn er mir näherkam, zuckte ich zusammen und verkrampfte, und er zog sich entschuldigend wieder zurück. Dennoch war mir seine Gegenwart nicht unangenehm, er lenkte mich von meinen irdischen Zwängen ab. Ich genoss es beinahe, wenn er da war, da er mir eine gewisse Sicherheit bot, weil ich ihm mittlerweile so weit vertraute, mir nicht wehzutun. Wenn er da war, kam sein Vater nicht, und dieses drohende Gefühl der Angst, dass ich verspürte, wenn ich allein war, konnte kurz Pause machen. Sein Bruder dagegen hatte ich schon eine Weile nicht mehr aushalten müssen, eine oberflächliche Schicht von mir war neugierig, was er trieb, aber eigentlich war ich hauptsächlich froh, dass er nicht da war. Während ich eine Portion Spaghetti verschlang, die auch drei Leute satt gemacht hätte hörte ich das erste Mal so richtig zu, was mein Verpfleger so von sich gab. Es ging hauptsächlich um Probleme in der Schule, und welcher Lehrer ihn heute so genervt hatte. Ich wollte gerade wieder abschalten, als er von einem Jurastudium erzählte, dass er im nächsten Jahr beginnen wollte. Ich zuckte zusammen, als mir klar wurde, dass er dann nicht mehr hier sein würde, um mich zu beschützen. Er sah mich ähnlich erschrocken an wie ich ihn. Er fragte mich ungläubig, ob ich ihm wirklich zugehört hatte. Als ich nichts sagte, sondern fast anfing zu heulen, nahm er mich in den Arm und redete mir gut zu, auch wenn er keine Ahnung hatte, weshalb ich so reagiert hatte. Ich verkrampfte mich nicht einmal, und erst als mir auffiel, dass ich jetzt hemmungslos weinte, zog ich mich wieder in mich zurück. Es gelang mir nicht besonders gut, aber ich wollte eine gewisse Würde beibehalten. Mir war bewusst, dass ich über keinerlei Würde verfügte, aber ich war gewillt, nicht vor meinen Entführern mehr Gefühle als notwendig zu offenbaren. Ich war kurz davor meinem Gegenüber zu erzählen, was mir durch den Kopf ging, weil ich es ihm schuldig war. Dann viel mir auf, dass ich ihm rein gar nichts schuldig war. Dann fiel mir auf, dass ich noch immer in seinen Armen war und drückte mit meinen kraftlosen Armen gegen seine Brust. Er ließ mich sofort los und sah mich besorgt an. Ich glaube nicht, dass er gemerkt hatte, wie kurz davor ich gewesen war, mit ihm zu reden, aber es machte auch keinen Unterschied. Ich hatte noch nie mit ihm geredet. Ich weiß nicht, ob er überhaupt wusste, dass ich reden konnte. Ich wusste nicht einmal selbst, ob ich noch eine Stimme hatte. Ich sah auf seinen Hals, ich wusste nicht, wohin sonst. Er streckte seine Hand aus und wischte mit seiner Hand eine Träne von meiner Wange. Er versicherte mir, dass alles gut werden würde, und da reichte es mir. Ich scheuerte ihm eine, hob den Saum meines Pullovers so weit hoch, dass er meinen mit Narben und blauen Flecken übersäten Bauch sehen konnte. Ich fragte ihn, wie zum Teufel alles gut werden sollte, doch es kam nur ein Flüstern über meine Lippen. Er bewegte sich nicht. Irgendwann schloss ich die Augen und versuchte, ihn auszublenden. Eine plötzliche Bewegung ließ mich zusammenzucken und ich vermisste die Zeit, in der ich mir sicher sein konnte, dass er mir nichts tun würde. Doch er schlug mich nicht. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich nur noch, wie die Tür sich schloss. Ich sah zu dem Blumentopf herüber und wünschte mir, ich könnte mit ihm tauschen. Doch ich musste aushalten, was mir geschah, um andere zu retten. Das nächste Mal, dass die Tür geöffnet wurde, war es wieder der Vater. Ich bewegte mich nicht, bis er mich dazu zwang. Ich dachte an seinen Sohn, der mir so lange einen Zufluchtsort gegeben hatte, und fragte mich, ob ich so etwas je wieder erleben durfte. Ein Gefühl der Sicherheit. Geborgenheit. Das Gefühl, dass sich irgendwer um mich kümmerte.

Einseitige LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt