23. Kapitel - Eilends nach Lórien

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23. Kapitel – Eilends nach Lórien

Merendú war den ganzen Tag lang am Celebrant entlang geritten, und Azar hatte seine Geschwindigkeit lange nicht verringert, unermüdlich war er vorangeprescht, und in der seltsamen Stille, die Merendú um sich spürte, klang das Schlagen der Hufe auf den trockenen Erdboden, nur gedämpft vom weichen Gras, wie das Donnern einer Herde wilder Hengste. Die Straße, der Merendú folgte, war meist eben und fest, nur an ihren Seiten hob und senkte sich das Land mal sanft, mal etwas schroffer in kleinen Hügeln und felsigen Mulden, aber Merendú erkannte den Weg stets und Azar folgte ihm ohne Mühen. Doch nicht vermochten seinen Reiter das schnelle Vorankommen noch die Stille der Welt um ihn zu beruhigen, denn Merendú wusste hinter sich die Schreie der Orks und ihre krummen Säbel und Schilde und ihre Fackeln, die Boden und Bäume versengten. Seine einzige Hoffnung war es, den sich langsam dahinwälzenden Truppen der Orks mithilfe seines geschwinden Pferdes zu entkommen und rechtzeitig die Goldenen Wälder Lothlóriens zu erreichen, deren Magie und Kraft ihm Schutz und Rettung versprachen.

Längst schon stand die Sonne im Westen, und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie versinken würde und die Orks und alle üblen Kreaturen des Nebelgebirges sich im Land ausbreiten würden wie eine grässliche Seuche; und sie waren nur ein kleiner Teil der Armee des Dunklen Herrschers, und dennoch eine Streitmacht, wie sie seit einem Zeitalter nicht gesehen worden war. Mit einem Schlag wurde es Merendú klar: Diese Armee war ausgesandt, das schöne Land Lórien einzunehmen und damit eine der letzten Heimstätten des Schönen Volkes, in der sich noch der Glanz und die Anmut vergangener Lebensalter spiegelten, zu vernichten; und all ihre Wunder, von denen die Dúnedain voll Ehrfurcht und gewöhnliche Menschen voll Angst sprachen, würden für immer dahingehen. Bei diesem Gedanken wurde Merendús Herz von Grimm und Zorn erfüllt, und er trieb sein treues Pferd noch stärker an, denn er wusste, dass es seine Pflicht war, die Elben, die in dieser wundersamen Stätte lebten, vor der drohenden Gefahr zu warnen, und er wusste, dass seine Zeit knapp war und sein Leben und das vieler großer Krieger und Herrscher auf dem Spiel stand.

Bald wurde der Weg ebener, und die verkrüppelten Nadelbäume, die zu beiden Seiten des Weges (und teilweise auch mitten darin, denn die Straße war seit vielen Jahrhunderten nicht mehr gepflegt worden), wichen bald großen Laubbäumen, und unablässig zu seiner Rechten hörte Merendú das Rauschen des Silberlaufes, der sich nun jedoch immer wieder hinter den mittlerweile dicht gedrängten breiten Stämmen der sich mehrenden Bäume verbarg. Von den Orks sah und hörte Merendú nichts, und er erwartete es auch nicht anders, denn eine derart gewaltige Armee bewegte sich naturgemäß langsamer fort als ein einzelner Mann auf einem ausdauernden Pferd, und doch war Merendú in Eile, und Furcht trieb ihn und seinen Gefährten an, und er gönnte sich und Azar keine Pause, bis die Sonne im Westen hinter den Spitzen von Caradhras und Celebdil versunken war und der Wald dunkel und unfreundlich wurde, und die Kälte des noch zu jungen Frühlings ihn empfing; und der Wind frischte auf und ließ Merendú am ganzen Leib zittern, denn er hatte ja seinen Umhang im Moor zurücklassen müssen, dessen Tücken er nun ein weiteres Mal verfluchte ebenso wie sein grausames Schicksal. Wie viel lieber er gerade mit den anderen, stolzen und erhabenen Dúnedain geritten wäre, dem König entgegen und dem offenen Krieg gegen Mordor und Sauron, mit grimmigem Blick und von Zorn und Hoffnung gleichermaßen entflammtem Herzen! Wie viel lieber er ein ruhmreiches Ende in der Schlacht gefunden hätte, das gemeinsam mit dem Ende vieler tapferer Männer besungen würde, als elend und allein im Wald den Kältetod zu sterben!

Und da fragte sich Merendú, ob wenigstens die anderen, die mit ihm geritten waren bis zu ihrer schicksalhaften Trennung in den Tücken des überfluteten Marschlandes, ob sie wenigstens Aragorn gefunden hatten und nun neuen Mut schöpften, oder ob sie auf ihrer mühevollen und gefährlichen Reise schließlich durch die Kriegskunst ihrer Feinde alle dahingegangen waren; und bei diesem Gedanken wurde sein Herz dunkel. Und er dachte an die beiden Frauen, die mit ihnen gegangen waren und die so wie er ebenfalls vom Rest der Schar getrennt worden waren, ob sie auch einen Ausweg gefunden hatten oder ob sie nun beide, befreit von den Lasten des menschlichen – des sterblichen – Lebens, auf dem Grund der Erde lagen und nichts mehr sahen und hörten und spürten vom Schmerz und Leid Mittelerdes. Er erinnerte sich zurück, wie es ihn zu Beginn des gemeinsamen Zuges sehr befremdet hatte ob dieser beiden, denn sie waren jung und stolze und schöne Frauen der Dúnedain, und solche wanderten selten durch die Wälder und fochten Kämpfe wie die Männer, sondern sie sollten die Ehefrauen sein, die Heim und Kind versorgten und verteidigten, wenn die Not groß war, und so hatte Merendú es sich stets auch für sich gewünscht; doch er hatte ihre Entschlossenheit gesehen und ihren Mut und Willen und ihre Kampfeskraft, und auch wenn er sich stets verwundert hatte, dass nicht nur eine Frau (und das war selten genug) mit den Männern zog, sondern gleich deren zwei, so hatte er sie dennoch bald angenommen als Teil der Unternehmung, und er war sich selbst töricht vorgekommen, als ihm immer wieder der Gedanke kam, dass diese nicht zu ihnen gehörten, sondern in die Siedlungen der Dúnedain im Delta des Bruinen, denn ihm war klar geworden, dass sie vielleicht genau das getan hätten, wenn die Welt ihrem alten Lauf gefolgt wäre und sie ein Alter erreicht hätten, in dem es für die Frauen der Westmenschen üblich und angemessen war, sich einen Gatten zu suchen und sich niederzulassen; doch der Lauf der Welt hatte sich geändert, und es war gleich, ob diese Frauen in Siedlungen starben, ohne eine Familie, für die sie hätten kämpfen können, oder direkt im Krieg gegen Sauron wie die Männer, nur, dass in diesem Krieg noch ein winziger Funken Hoffnung bestand, an dem auch diese beiden mithelfen könnten, ein Feuer zu entzünden, anders als daheim, wo sie in einer Hütte dahindarben würden, bis der Krieg verloren sein würde, um dann dort zugrunde zu gehen. Und so dachte er noch lange an Beravor und Istavor, welche er als letzte gesehen hatte von der Schar, und in Gedanken stellte er sich vor, wie der Krieg vorbei wäre und er mit Istavor gemeinsam durch die freien Lande spaziert wäre, denn nichts kam ihm in diesem Moment wünschenswerter vor, als eine tapfere und tugendhafte Frau zu finden und mit ihr durchs Leben zu gehen, durch ein Leben frei von Not und Schatten aus dem Osten.

Der Weg der Grauen ScharWo Geschichten leben. Entdecke jetzt