24. Kapitel - Die Pfade der Toten

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24. Kapitel – Die Pfade der Toten

So früh am Morgen war die Graue Schar losgeritten, dass die Sonne sich noch lange Zeit nicht zeigte, denn links und rechts des Pfades, den sie nun entlangritten, erhoben sich die Flanken des Gebirges, und vor sich sahen sie alle drohend die schwarzen Grate des Geisterberges, die das Licht der Sonne verbargen und den Pfad in Schatten hüllten, einen Schatten, der tiefer war als jeder, den Beravor bisher gesehen hatte; und es schien ihr, als würde um sie herum alles kälter werden, je näher sie dem Dwimorberg kamen. Sie folgten einem ansteigenden Pfad tiefer in das Gebirge hinein, der auf beiden Seiten von alten Steinen gesäumt war, die schon seit Anbeginn der Zeiten dort zu liegen schienen. Nicht lang war dieser Pfad, und immer und immer näher kam der Berg, und doch wünschte sich Beravor, dass sie nie dort ankommen würden, denn eine Furcht befiel sie beim Blick auf diesen Berg, die sie sich nicht erklären konnte, und dennoch ritt sie weiter.

Bald waren sie nahe an den Berg herangekommen, und noch immer stand die Sonne nicht über dem Geisterberg; und da kam die Graue Schar an den Rand eines kleinen Waldes von schwarzen Bäumen. Und plötzlich wurde Beravor schwarz vor Augen und ein Entsetzen befiel sie, als die Bäume über ihr waren, und sie sah sich nicht mehr nach Istavor um, die nahe bei ihr ritt, noch blickt sie nach Rovaldil, der vor ihr war, sondern sie sah nur noch die schwarzen Wipfel der Bäume und die Schatten unter ihnen. Sie wollte umkehren und aus dieser verfluchten Schlucht fliehen, denn es schien ihr, als würde ihr das Herz in der Brust zerrissen werden; doch sie kehrte nicht um, denn obwohl ihr schien, als dränge sie eine Macht in ihrem Herzen dazu, die Flucht zu ergreifen und all diesen Schrecken hinter sich zu lassen und ihn vielleicht sogar irgendwann wieder zu vergessen, so gab es einen Willen, der sie und Gwaelim zwang, weiterzureiten. Sie hörte, dass vor ihr jemand etwas sagte, doch sie nahm die Worte nicht wahr, denn sie verklangen schnell in den Schatten des Waldes und dem von Tannennadeln bedeckten Boden. Kein Wort redete sie von da an mehr für den Rest des Tages.

Als das erste Entsetzen etwas abgeklungen war, zwang sich Beravor, trotz der Furcht, die sie empfand, nach vorne zu blicken, und ohne, dass sie es bemerkt hatte, hatte die Schar angehalten, und undeutlich im Zwielicht des Morgengrauens meinte Beravor den Schemen eines gewaltigen Steins zu erkennen, doch sie wagte nicht, näher heran zu reiten, und Gwaelim zögerte und schnaubte, und Beravor spürte, dass er große Angst hatte. Da sah sie, wie vor ihr die ersten Reiter von ihren Pferden stiegen, und sie tat es ihnen gleich. Dann nahm sie die Zügel von Gwaelim in die Hand, und wie alle anderen führte sie ihr Pferd und redete ihm in Gedanken gut zu; aber sie wagte es nicht, auch nur ein Wort laut auszusprechen. Gwaelim ließ sich widerwillig führen, aber er machte nie Anstalten, umzukehren, vielleicht aus Angst, alleine den Weg zurück nehmen zu müssen. Schließlich führte auch Beravor, die am Ende des Zuges lief, Gwaelim am großen Stein vorbei, und als sie ihn anblickte, da schauderte ihr, und schnell ging sie an ihm vorüber, und in diesem Moment war sie dankbar, dass es diesen Willen gab, der sie voran zwang, gegen ihren eigenen Willen zwar, aber zu ihrem Besten, und der sie auch jetzt heil an diesem Stein vorbeizog, auch wenn sie am liebsten geschrien und um sich geschlagen hätte, so bang war ihr; doch ihre Lippen blieben stumm und ihre Muskeln starr, und sie lief vorbei; und nur in ihrem Gesicht konnte man sehen, welche Seelenqualen sie litt.

Als Beravor den Stein passiert hatte, führte der Pfad noch ein wenig unter den dunklen Bäumen hindurch, und auf allen Dúnedain lastete der Schrecken dieser Finsternis. Doch nach kurzer Zeit lichtete sich der Wald, und die Graue Schar trat in eine weite Schlucht: Auf allen Seiten war sie von hohen Felswänden umringt, außer an der Stelle, an der der Pfad in sie hineinführte und die die Waldläufer nun durchschritten; nun waren sie am Geisterberg angelangt, und die größte und drohendste der Felswände lag nun direkt vor ihnen. Die Sonne hatte sich immer noch nicht über den Berg erhoben, und Beravor glaubte auch nicht mehr an ihr Licht, denn es schien ihr, als habe sie alle Erinnerungen an Helligkeit verloren und als seien seit ihrem Ritt nach Edoras und Dunharg viele Menschenalter vergangen.

Der Weg der Grauen ScharWo Geschichten leben. Entdecke jetzt