2. Kapitel - Eine unerwartete Begegnung

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Achtung Re-Upload: Dies ist eine neue, verbesserte und erweiterte Version des 2. Kapitels von November 2020.

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2. Kapitel – Eine unerwartete Begegnung

In den ersten Stunden der Nacht schien sich Beravors Befürchtung jedoch zunächst zu bewahrheiten, denn sie sah und hörte nichts, was auf einen Feind hätte hindeuten können, nur einige Fledermäuse und Eulen kamen in ihr Blickfeld, bevor sie wieder in der Dunkelheit des Waldes verschwanden, und die einzigen Lebewesen, die über den Waldboden huschten, waren Füchse und Marder. Doch Beravor durfte in ihrer Wachsamkeit nicht nachlässig werden, sie durfte jetzt mit ihren Gedanken in keinem Augenblick abschweifen, denn die Geschöpfe, die sie jagte, waren flink und schlau und versteckten sich geschickt, und sie musste auf jedes noch so kleine Anzeichen ihrer Gegenwart achten und auf alles gefasst sein. Darum richtete sie ihren Blick wieder in die Dunkelheit des Waldes, und ihre Ohren hörten auf verräterische Geräusche im Dickicht. Wenn sie glaubte, sich an einer Stelle genug umgesehen zu haben, ging sie einige Fuß weiter auf dem Hügelkamm nach Westen oder Osten und suchte dort nach Spuren von Feinden. Doch sie fand bis Mitternacht keine Anzeichen von Orks oder Wargen, die den Wald durchstreiften. Die Waldläufer im Norden, in den Wetterbergen und bei Fornost, der alten Festung des Königs, das die einfachen Menschen in Breeland nur den Totendeich nannten, schienen ihre Arbeit gut zu machen und keine dieser Wesen in den Süden ziehen zu lassen, wo sie größeren Schaden anrichten konnten. Das war natürlich etwas Gutes, doch sie nahmen damit Beravor jegliche Arbeit ab und ließen ihr ihre nächtliche Wache ziemlich sinnlos vorkommen. Nun wünschte sich Beravor, sie hätte sich auch die Gebiete im Norden zum Ziel ihrer Jagd ausgewählt, wo es zwar noch weniger zu Essen und überhaupt keine sicheren Ruhestätten wenigstens für eine Nacht gab, dafür aber noch wirklich etwas zu tun. Beravor war vor einigen Jahren auch einmal dorthin, nach Fornost gewandert, und hatte sich die Ruinen der alten Veste angesehen, und war dann weiter über die Nördlichen Höhen nach Osten zu den Wetterbergen gezogen, um sich eine genaue Kenntnis dieser Landschaften zu verschaffen und sich nicht auf die Erzählungen der anderen Waldläufer verlassen zu müssen, doch dort war ihr damals alles so öde und feindselig vorgekommen, dass sie es vorgezogen hatte, doch wieder in die Nähe der besiedelten Gebiete zu ziehen, die sie eigentlich gerne mied. Nun aber wünschte sie sich, dort geblieben zu sein und etwas zur Bewahrung des Erbes der Dúnedain beitragen zu können.

Beravor schüttelte diese Gedanken ab, als sie merkte, dass diese sie von ihrer eigentlichen Aufgabe abzulenken begannen, und richtete ihren Blick wieder auf das, was in der Dunkelheit des Waldes geschah. Immer wieder blickte sie sich auch nach allen anderen Seiten um, damit ihr der Vorteil, dass sie erhöht über dem Waldboden stand, nicht zum Nachteil gereichen würde, wenn es einem dieser Ungeheuer gelang, von ihr ungesehen in den Schutz des Schattens des Hangs zu gelangen und ihr dort aufzulauern. Doch sooft sie sich umsah, nie konnte sie etwas sehen, was sie hätte beunruhigen müssen. Mittlerweile war es sicherlich nach Mitternacht, und sie hatte noch immer nichts zu tun gehabt. Sie überlegte sich, ob sie vielleicht ihre Kräfte schonen und in die Höhle zurückkehren sollte, um dort ein wenig zu schlafen, damit sie morgen ohne die üblichen Schmerzen in den Gliedern würde weiterwandern können. Sie beschloss, noch ungefähr eine Stunde, soweit sie es abschätzen konnte, wach zu bleiben, und falls sich dann immer noch keine Gegner oder irgendeine andere Gefahr gezeigt hätten, zu ihrem Lager zurückzukehren und sich auszuruhen. Schließlich konnte sie wahrlich Besseres mit ihrer Zeit anfangen, als in der Finsternis und Kälte der Nacht zu stehen und Bäume anzustarren.

Auf einmal hörte Beravor in einiger Ferne einen dumpfen Schlag. Sie drehte sich um und spähte in die Finsternis, doch sie sah nichts. Doch ein weiterer Schlag ertönte, wie das Stampfen eines großen Tieres. Um nicht gesehen zu werden, duckte sich Beravor hinter einen größeren Felsblock, der ein wenig aus dem Boden hervorragte. Doch noch immer verhüllten die Schatten des Waldes alles, was mit diesem merkwürdigen Geräusch zu tun haben mochte. Dann war alles für einen Augenblick still, und Beravor dachte schon, sie hätte sie alles nur eingebildet. Dann allerdings erklang erneut ein tiefes dum, und bald ein weiteres. Beravor war sich nun sicher, dass es sich um Schritte handeln musste, denn es waren regelmäßige Abstände, in denen diese Schläge den Wald erfüllten. Doch welches Tier hatte so gewaltige Füße? Noch während Beravor darüber nachdachte, sah sie, wie eine Gruppe Rehe aus dem Wald sprang, panisch und wie auf der Flucht. Das war nun wirklich sehr merkwürdig, und Beravor spürte, dass eine große Gefahr auf sie zukam. Ihr Griff um den Bogen, den sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, ohne ihn in dieser Nacht auch nur ein einziges Mal benutzt zu haben, wurde nun fester. Ihr Körper bereitete sich auf alles vor, ihr Herz schlug schneller und ihre Muskeln spannten sich an. Dum, dum hallten die Schritte durch den Wald, und sie wurden immer lauter. Beravor kniete sich nun hinter den Felsen, um ja nicht sichtbar zu sein für das, was sich da näherte, und nur für einen kurzen Augenblick lugte sie dahinter hervor, in der Hoffnung, einen Blick auf das Ungetüm werfen zu können. Zunächst sah sie nichts, doch als sie ein weiteres Mal hinter dem Felsen hervorsah, erkannte sie eine massige Gestalt, die sich langsam aus den Schatten des Waldes löste. Beravor stockte für einen Moment der Atem. Ein gewaltiger Troll kam direkt auf sie zu, eine dicke Keule ruhte auf seiner breiten Schulter. Er hatte sie noch nicht bemerkt, und schnell verbarg sich Beravor wieder hinter dem Stein. Sie ging nicht davon aus, dass der Troll ihretwegen hier war, sondern vielmehr zufällig auf seiner Wanderung nach Süden an diesem Ort vorbeigekommen war. Wahrscheinlich war es ein Troll aus den Wetterbergen, der gespürt hatte, dass die Dunkelheit sich ausbreitete und sich so näher an die Gebiete der Menschen gewagt hatte. Er würde viel Verwüstung und Leid anrichten, wenn er es bis zu den Siedlungen von Breeland schaffte, und darum war es nun Beravors Aufgabe, ihn aufzuhalten und zu vernichten, auch wenn sie dabei ganz auf sich gestellt war. Zumindest hatte sie die Gelegenheit, sich auf einen Angriff auf diesen Gegner vernünftig vorzubereiten, denn er hatte sie noch nicht entdeckt.

Beravor wartete ab, bis der Troll an ihr vorbeigezogen war und ihr den Rücken zuwandte. Dann erhob sie sich und gab ihre Deckung auf, um ihren Gegner genau zu betrachten. Es war ein wirklich großer Troll, größer als alle, die sie bisher in ihrem Leben gesehen hatte. Sie konnte im Zwielicht der Nacht nicht alles genau erkennen, doch sie glaubte, dass es sich um einen Steintroll handelte, wie sie besonders im Norden der Wetterberge lebten. Es war ein wirklich ernstzunehmender Gegner, und in einem offenen Kampf gab es für Beravor keine Aussicht auf einen Sieg. Sie musste sich auf ihre Klugheit und Erfahrung verlassen. Es galt, sich möglichst schnell eine List auszudenken, mit der sie den Troll würde zur Strecke bringen können, denn sie konnte es nicht erlauben, dass er sich den Siedlungen der Menschen weiter näherte. Sie hatte nicht viel Zeit, und ihr Kopf arbeitete bereits an möglichen Plänen zur Vernichtung des Gegners. Ihn einfach mit ihren Pfeilen zu Tode zu schießen war ihr erster Gedanke, den sie jedoch gleich wieder verwarf. Trolle hatten im Allgemeinen eine sehr dicke Haut, und Steintrolle trugen ihren Namen nicht nur deshalb, weil sie in den öden Hügellanden von Eriador lebten. Sie musste näher an ihren Gegner heran, um an seine weniger gut geschützten Körperteile zu gelangen. Ein vollständiger Plan war ihren Gedanken zwar noch nicht entsprungen, aber sie beschloss, sich zunächst auf ihre Schnelligkeit und Wendigkeit zu verlassen und sich dem Ungetüm zu nähern. So leise wie möglich stieg sie vom Höhenzug hinunter und eilte schnellen Schrittes über den Waldboden, immer darauf bedacht, auch nicht das kleinste Geräusch zu verursachen. Sie bemerkte, dass der Troll sich schon ziemlich weit von ihr entfernt hatte, auch wenn seine Schritte plump und langsam aussahen – seine schiere Größe und Schrittlänge ließen ihn schneller vorankommen, als es den Anschein hatte. Umso weniger durfte Beravor nun zögern. Sie hatte nun so etwas wie einen Plan, und für all die Unsicherheiten, die er bot, vertraute sie auf die Dummheit des Trolls. Sie rannte in Schussweite des Trolls und versteckte sich hinter einem Baum. Dann legte sie einen Pfeil in die Sehne ein, drehte sich um, aus der Deckung heraus, schoss und zog sich gleich darauf wieder in den Schatten des Baumes zurück. Sie hatte auf den Nacken des Trolls gezielt, in der Hoffnung, dass er dort empfindlicher sein würde als an anderen Körperstellen, und hoffte nun, dass sie ihn auch getroffen hatte. Und sofort hörte sie ein ärgerliches Schnauben und Brüllen. Die Schritte verstummten, der Troll war stehengeblieben. Beravor lugte hinter dem Baum hervor und sah, wie der Troll mit seiner riesigen Pranke seinen Nacken betastete und den Pfeil herauszog. Beravor erkannte die Gunst der Stunde und schoss gleich einen zweiten Pfeil hinterher. Er traf die immer noch den Nacken befühlende Hand des Trolls. Nun wurde auch dieser, so einfältig er auch war, misstrauisch und blickte sich um. Dann machte er schließlich ganz kehrt und ging in Beravors Richtung, auf der Suche nach der Ursache für diesen nächtlichen Angriff. Auf diesen Augenblick hatte Beravor gewartet. Kaum, dass er an ihr vorbeigegangen war, ohne sie zu bemerken, sprang sie mit gezogenem Schwert aus ihrem Versteck, tauchte unter dem Leib des Trolls hindurch und stieß ihr Schwert mit aller Kraft dorthin, wo sie seine Weichteile vermutete. Schwarzes Blut auf der ganzen Klinge zeigte ihr, dass sie richtig gelegen hatte. Noch bevor der Troll verstanden hatte, woher dieser neue Schmerz kam, war Beravor wieder in den Schatten verschwunden.

Nun war der Troll wirklich wütend, und diese neue Wunde setzte ihm bereits sehr zu. Er schrie und schlug mit den Fäusten um sich, ohne jedoch etwas zu treffen. Wenn ich etwas Gift gehabt hätte, dachte Beravor, dann könnte ich mich jetzt zurücklehnen und dem Troll beim Sterben zusehen. So aber musste sie diesen waghalsigen Angriff noch einmal unternehmen. Doch das war nun gar nicht mehr so einfach, denn in seinem rasenden Zorn trampelte der Troll auf der Stelle und vollkommen unvorhersehbar auf dem Boden herum, und Beravor musste darauf achten, nicht von ihm zerquetscht zu werden. Wieder sprang sie aus ihrem Versteck, und wieder fand ihr Schwert den Weg tief in den Körper des Trolls. Doch beim Rückzug hatte sie dieses Mal weniger Glück: Als sie aus der Gefahrenzone springen wollte, wurde sie vom wild herumschlagenden Fuß des Trolls getroffen und strauchelte. Nun hatte das Ungetüm sie bemerkt. Es holte mit seiner großen Keule aus, doch gerade noch rechtzeitig fand Beravor ihr Gleichgewicht wieder und wich dem Schlag aus, der einen dumpfen Knall auf dem Boden verursachte, welcher unwirklich laut durch den Wald hallte. Doch Beravor hatte keine Zeit, zu verschnaufen, denn nun versuchte der Troll mit seiner freien Hand, nach ihr zu greifen. Mit einem gewaltigen Hieb schlug Beravor ihr Schwert gegen seine Finger, und der Troll brüllte laut vor Schmerz. Für einen Augenblick war er zu sehr mit seinem Schmerz beschäftigt, und das nutze Beravor aus, um ihm einen Hieb in den Bauch zu versetzen. Mittlerweile blutete der Troll aus vielen Wunden, doch noch war er nicht besiegt. Beravor wollte wieder zu seiner weichen Unterseite gelangen, doch der Troll schlug und trat mit aller Kraft nach ihr, und seine Faust erwischte Beravor an der rechten Seite. Für einen kurzen Augenblick blieb ihr die Luft weg, und sie stürzte zu Boden. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich zur Seite rollen, als der Troll sie zu zertreten versuchte. Sie brauchte kurz, um ihre Fassung wiederzufinden, doch dann sah sie, dass sie günstig lag, zwischen den beiden gewaltigen Beinen des Trolls. Dieser hielt für einen kurzen Moment inne, denn er konnte seine Angreiferin nicht mehr sehen, und Beravor nutzte diese Zeit, um ihr Schwert mit aller Kraft, die sie noch hatte, in den Leib des Ungetüms zu stoßen. Sie stöhnte vor Anstrengung, als sie das Schwert immer tiefer in seinen Unterleib drückte, doch schließlich hatte sie es bis zum Schaft in ihrem Gegner versenkt. Dann zog sie es mit einem lauten Schrei ganz heraus, und schwarzes Blut strömte aus der Wunde. Der Troll schrie und schlug um sich, doch nun schwanden seine Kräfte zusehends. Beravor zog sich wieder zurück und sah dem Todeskampf des Trolls aus sicherer Entfernung zu. Ein wenig tat ihr dieses Geschöpf leid, als sie es so mit dem Tod ringen sah. Doch Trolle waren Geschöpfe der Dunkelheit, vom Ersten Dunklen Herrscher gezüchtet, und verdienten kein Mitleid und keine Gnade. Und bald war es vorbei. Der Troll stürzte zu Boden, ein paar klagende Schreie drangen noch aus seinem widerlichen Maul, und dann war er tot. Beravor verweilte nicht lange beim Leichnam ihres Gegners, und sie konnte sich noch nicht über ihren Sieg freuen, auch wenn sie durchaus stolz auf sich war. Denn die Nacht war noch immer lang und finster, und viele Gefahren lauerten noch in ihren Schatten. Noch war es nicht an der Zeit, sich auszuruhen.

Beravor machte sich auf den Rückweg zu ihrem Lagerplatz. Der Kampf hatte sie ein gutes Stück von dort weggeführt, doch nun hatte sie es zum Glück nicht mehr eilig. Sie ging langsam, denn ihre Seite schmerzte noch ein wenig vom Stoß des Trolls, doch sie hatte keine schwererwiegenden Verletzungen davongetragen. Sie blickte noch einmal zurück und sah den gewaltigen Leib ihres erschlagenen Gegners, der vom bleichen Licht des Mondes beschienen wurde. Es war der erste Troll in ihrem Leben gewesen, den sie bekämpft und besiegt hatte. Auch wenn sie das mit Stolz erfüllte, so wusste sie, dass ihr dieser Sieg nicht viel half. Sie hatte es nur für die einfachen Menschen von Bree und Archet getan und für die Hobbits des Auenlandes, nicht für sich selbst. Sie war weiterhin zu einem Leben in Einsamkeit und Gefahr verurteilt. Sie bemerkte, wie sie wieder einmal begann, sich über Dinge zu ärgern, die sie nicht ändern konnte. Es war ihre Pflicht, ihr Schicksal, das Schicksal ihres Geschlechts, und dem musste sie sich beugen und das Beste aus dem machen, was man ihr vererbt hatte. Sie fragte sich, ob die Dúnedain für immer zu diesem Leben verdammt sein würden, oder ob sie sich eines Tages wieder erheben und ihre rechtmäßige Stellung als größte der Menschen wieder einnehmen würden. Doch all das waren verschwendete Gedanken. Sie war eine Waldläuferin, und das bedeutete, dass sie sich auf das konzentrieren musste, was um sie herum geschah, nicht darauf, was in ferner Zukunft würde passieren können.

Beravor kehrte zum Hügelzug zurück und hielt für den Rest der Nacht nach weiteren Feinden Ausschau, doch keiner zeigte sich, und bald wurde sie in ihrer Wachsamkeit ein wenig nachlässiger, soweit sie es sich erlauben konnte, und konnte sich so ein wenig von dem anstrengenden Kampf gegen den Troll erholen. Ihre Seite tat noch immer ein wenig weh, und schließlich zog sie ihr Hemd an der Stelle, an der der Troll sie getroffen hatte, ein wenig hoch und besah die Verletzung. Es war nur eine leichte Blessur, ein Bluterguss, der bald wieder verblassen würde. Sie hatte Glück gehabt, dass der Troll sie in der Dunkelheit der Nacht nicht voll erwischt hatte, denn dann hätte der Kampf schnell anders ausgehen können. Doch so hatte sie die Oberhand behalten. Schnell zog sie das Hemd wieder über die Stelle, denn es war noch Winter und sehr kalt, und sie musste ihre bloße Haut nun wirklich nicht dem eisigen Wind, der durch den Wald wehte, aussetzen. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf die unendlich erscheinenden Reihen der Baumstämme, das dunkle, beinahe mit Blicken nicht zu durchdringende Unterholz, sie hörte auf das leise Rauschen der Blätter im nächtlichen Wind und auf die Rufe der Nachtvögel, die verhalten durch die Hallen der Bäume hallten. Hin und wieder setzte sie sich auf den kühlen Waldboden und lehnte sich gegen Steine oder Baumstämme, um sich ein wenig auszuruhen, und es gab für sie im Laufe der Nacht keinen weiteren Grund, aufzustehen und zu kämpfen. Alles blieb ruhig, und der Wald war so friedlich, dass man beinahe zur Auffassung kommen konnte, all die schrecklichen Gestalten, gegen die die Waldläufer kämpften, seien nur Hirngespinste und Trugbilder, die nicht wirklich durch die Wälder Eriadors streiften. Doch so war es nicht, und die Gefahren, die im ganzen Land lauerten, waren echt, und ihre Zahl wuchs. In dieser Nacht aber zeigten sie sich nicht mehr. Dafür begann es kurz vor Sonnenaufgang wieder, ein wenig zu schneien, und der Schnee durchnässte Beravors Kleidung, sodass sie bei den ersten Strahlen der Sonne beschloss, dass ihre Wache erst einmal beendet war, und sich in ihr Versteck zurückzog, um sich noch ein wenig auszuruhen, bevor sie weiterzog, auf der Suche nach den Dienern des Feindes. Dadurch, dass Orks und Trolle Wesen der Nacht waren und nur selten am Tag angetroffen werden konnten, war der Tagesablauf der Waldläufer meistens anders als der der anderen Menschen, und sie legten sich bei Sonnenaufgang zur Ruhe und wanderten vom Nachmittag bis in die Abendstunden, wenn sie keine besonders weiten Strecken zurücklegen mussten, und in der Nacht suchten sie sich geschützte Stellen, um nicht den Geschöpfen der Finsternis, die ihnen in der Nacht überlegen waren, wenn sie aus dem Hinterhalt angriffen, zum Opfer zu fallen.

Beravor schlief nur wenige Stunden, und noch vor dem Mittag erwachte sie und wusste, dass es an der Zeit war, weiterzuziehen. Sie erhob sich und kroch aus der Höhle. Es schneite immer noch, aber weniger als bei Tagesanbruch, und Beravor lief als erstes zu den Fallen, die sie am Tag vorher aufgestellt hatte, doch sie waren alle leer, wie sie es erwartet hatte. Doch es half nichts, ihre Vorräte reichten noch ein wenig und sie hatte am heutigen Tag noch genug Zeit, um vielleicht eine kleinere Jagd unternehmen zu können. Sie verließ die Fallen und ließ den Hügelkamm im Norden hinter sich, und machte sich auf den Weg weiter nach Süden, wieder tiefer in den Wald hinein. Bei Tag war es hauptsächlich ihre Aufgabe, nach verräterischen Spuren zu suchen, die ein Feind in der Nacht hätte hinterlassen können, und so blieb sie immer wieder stehen und untersuchte den Waldboden, Sträucher und Baumrinde nach Anzeichen für Feinde. Doch einige Stunden lang fand sie nichts. Am späteren Nachmittag sah sie in einiger Entfernung ein Kaninchen, das sich unvorsichtigerweise aus der Sicherheit des Unterholzes gewagt hatte. Hier erkannte Beravor die Gelegenheit, ihre Vorräte ein wenig aufzubessern. Sie schlich sich so leise wie möglich noch ein wenig näher an das Tier an, dann zog sie ihren Bogen und legte einen Pfeil ein. Sie wusste, dass ihr erster Schuss treffen musste, sonst war das Kaninchen bald über alle Berge. Doch ihre ruhige Hand ließ sie auch heute nicht im Stich, und das Kaninchen landete kurz darauf in ihrer Tasche. Sie würde am Abend, wenn sie ihr nächstes Versteck gefunden haben würde, noch genügend Zeit haben, sich eingehender mit ihm zu beschäftigen, dachte Beravor, und setzte ihre Wanderung durch den dicken Schnee fort.

Der Tag war schon weit fortgeschritten, auch wenn die Nacht noch fern war, als Beravor eine größere Lichtung erreichte. Sie war nun schon viele Stunden gelaufen und hatte noch immer kein Versteck und auch keine Spuren, die auf Feinde hindeuteten, gefunden, und wurde in ihrer Aufmerksamkeit mit der Zeit nachlässiger. Doch plötzlich erspähte sie am gegenüberliegenden Rand der Lichtung einen dunkelroten Schimmer. Sofort eilte sie dorthin. Tief in die mittlerweile dicke Schneedecke eingesunken lag dort die Leiche eines Orks. Er war noch nicht lange tot, soweit Beravor es beurteilen konnte, und sie hätte geglaubt, dass er in der Nacht einem anderen Waldläufer zum Opfer gefallen war, doch in seinem Schädel steckte noch ein Pfeil. Es war ungewöhnlich für Waldläufer, ihre Pfeile nicht wieder einzusammeln, denn sie hatten zumeist ohnehin nie genug davon und es brauchte viel Zeit, um einen ordentlichen Pfeil neu anzufertigen, Zeit, die die Waldläufer zumeist nicht hatten. Beravor fühlte, dass an der ganzen Sache etwas nicht stimmte, und untersuchte die nähere Umgebung der Leiche. Bald fand sie frische Spuren im Schnee, die weiter nach Süden führten. Beravor kam zu dem Schluss, dass der Waldläufer, wer auch immer es gewesen sein mochte, von mehr als einem Ork verfolgt wurde und deswegen keine Zeit gehabt hatte, sich den Pfeil zurückzuholen. Sie zog den Pfeil aus dem Körper des Orks und beschloss sogleich, den Spuren zu folgen, falls die Orks noch immer hinter dem Waldläufer her waren und sie ihm helfen musste. Sie beschleunigte ihre Schritte und blickte immer wieder auf den Boden, um zu sehen, ob sie noch immer auf der richtigen Fährte war.

Sie war noch nicht lange gelaufen, als sie in einiger Entfernung einen Schrei hörte. Sofort rannte sie in die Richtung, aus der er zu ihr gedrungen war, und noch im Laufen zog sie ihren Bogen hervor. Ein weiterer Schrei drang an ihr Ohr, und es war eindeutig der eines sterbenden Orks. Bald sah sie eine kleine Lichtung, wo mehrere Gestalten in einen Kampf verwickelt zu sein schienen. Beravor versteckte sich schnell hinter einem dicken Baumstamm und verschaffte sich einen raschen Überblick. Dort zwischen den Bäumen stand Halbarad, einer der mächtigsten und im Kampf erfahrensten Waldläufer. Eine Schar Orks hatte ihn umringt, sein Köcher war leer und auf dem Boden lagen die Leichen weiterer erschossener Orks. Sein Schwert war das Letzte, was zwischen ihm und seinen Feinden stand.

Beravor zögerte nicht lange. Sie trat hinter dem Baum hervor, und in ihren Bogen hatte sie einen Pfeil eingelegt. Bevor die Orks sie richtig bemerkt hatten, sank einer von ihnen tot zu Boden. Doch nun waren auch die anderen auf sie aufmerksam geworden. Einige von ihnen wandten sich ihr zu und machten sich zum Angriff bereit. Doch Halbarad nutzte die Unaufmerksamkeit seiner Feinde und tötete mit einem gewaltigen Streich gleich drei von ihnen. Die übrigen Orks stürzten nun auf Beravor zu. Sie warf den Bogen zur Seite und zog das Schwert. Fünf Orks griffen sie direkt von vorne an, und in ihren Augen blitzte der blanke Hass. Beravor hatte Mühe, sich ihrer aller zu erwehren, doch im Augenwinkel sah sie, dass Halbarad sich den Feinden von hinten näherte und einen von ihnen erschlug. Nun waren die Orks gefangen zwischen Hammer und Amboss, und egal, wohin sie sich wandten, immer drehten sie einem der Waldläufer den ungeschützten Rücken zu. Sie schrien verzweifelt, beinahe wütend über diese plötzliche Wendung des Schicksals, doch Beravor kümmerte das nicht, und keiner der Orks entkam den scharfen Klingen der Waldläufer. Nach wenigen Augenblicken war alles vorbei, auch wenn die Orks sich nach allen Kräften gewehrt hatten. Entsprechend schwer ging Beravors Atem, doch Halbarad schien sich kaum angestrengt zu haben.„Du hast dich gut geschlagen, Beravor", sagte er, „und ich bin dir zu Dank verpflichtet, denn ohne deine Hilfe wäre ich ihnen früher oder später zum Opfer gefallen." Beravor lächelte leicht, und sie konnte nicht leugnen, dass ihr das Lob Halbarads viel bedeutete, doch es war ihr auch ein wenig unangenehm, denn sie wusste, dass sie selbst noch viel weniger gegen diese Orktruppe hätte ausrichten können als er, hatte sie doch schon mit dreien von ihnen ihre liebe Not gehabt.
„Nicht doch", sagte sie darum. „Es war reines Glück, dass ich deine Spur fand und ihr hierher folgen konnte. Danke also den Valar und nicht mir, dass sie meine Schritte hierher gelenkt haben."

Halbarad musste über ihre Bescheidenheit lächeln, wusste er doch, dass Beravor in ihrem Herzen anders dachte, doch er wollte darauf nicht weiter eingehen.
„Ich muss den Valar tatsächlich danken", sagte er, „und besonders dafür, dass ich dich gefunden habe. Ich muss dir etwas Wichtiges berichten, aber das tun wir besser an einem sicheren Ort. Bleib bei mir, Beravor. Wir sollten einige Zeit miteinander wandern, damit ich dir erzählen kann, was mir auf dem Herzen liegt."
„Du scheinst darüber noch nicht sprechen zu wollen", sagte Beravor, „darum sag mir nun, welche Erklärung du dafür hast, dass diese Orks es wagten, dir bei Tageslicht zu folgen und mit dir zu kämpfen."
„Ich habe keine Erklärung dafür", sagte Halbarad, „außer, dass der Schatten wächst und die Kreaturen, die in ihm leben, mutiger werden. Ich begegnete den Orks heute Morgen, sie kamen aus westlicher Richtung. Ich erschoss einen von ihnen, doch sie bemerkten mich und verfolgten mich. Schließlich holten sie mich hier ein und es kam zum Kampf. Aber darüber wollen wir nicht mehr weiter reden. Lass uns nun ein Versteck für die Nacht suchen, und wenn wir uns ein wenig ausgeruht haben – denn nun, da wir zu zweit sind, kann sich einer von uns in der Nacht ein wenig Schlaf erlauben –, dann will ich dir erzählen, was ich angekündigt habe." Beravor nickte, und die beiden Waldläufer zogen los, weiter in Richtung Süden.

Halbarad ging voran, Beravor folgte ihm leichten Schrittes. Beim Ausatmen bildeten sich Dampfwölkchen in der Luft und der gefrorene Schnee knirschte unter den Stiefeln der beiden Waldläufer. So wanderten sie jetzt schon einige Zeit durch den stillen Wald. Beravor hatte den Eindruck, dass selbst die Tiere eingefroren wären, so wenig hörte sie. Der Tag verging schnell, und bald brach die Dämmerung herein – die Zeit, zu der die Orks aus ihren Höhlen kamen. „Beravor, sieh dort!" Halbarad deutete auf eine hochgewachsene Eiche in ihrer Nähe. Sie stand etwas entfernt von den anderen Bäumen und hatte starke Äste und einen dicken Stamm. „Lass uns dort die Nacht verbringen. Von oben herab kann man sich nähernde Orktrupps erkennen und dadurch, dass der Baum frei steht, können wir auch unsere Pfeile zum Einsatz bringen."
„Nur ein Feuer entzünden können wir dort oben nicht", meinte Beravor.
„Wohl war. Dennoch halte ich das für sicherer, als die Nacht auf dem kalten Boden zu verbringen, nicht wissend, ob ich am nächsten Morgen noch aufwachen werde. Außerdem können uns die Orks am Boden überraschen und wir müssen eine viel größere Fläche verteidigen, um uns zu schützen." Beravor nickte zustimmend. Im rötlichen Licht der untergehenden Sonne, deren Schein den Schnee zum Glitzern brachte, erkletterten sie den Baum, dessen Rinde von einer dünnen Eisschicht überzogen und dadurch sehr rutschig war. Doch ihre geübten Hände fanden selbst dort noch Halt, wo nichts zu sein schien. Schließlich hatten sie eine breite Astgabel erreicht, die genügend Platz bot für beide Dúnedain und ihr Gepäck. „Ich entzünde unter dem Baum ein Feuer. Es wird uns nicht wärmen, aber es wird uns genügend Licht bieten, um im Falle eines Orkangriffs nicht danebenzuschießen", meinte Halbarad und stieg nochmals vom Baum herab. Unten entzündete er mit viel Geschick ein Feuer, das nach und nach die Eiskruste und den Schnee schmolz und ein kleines Fleckchen braunen Waldbodens zum Vorschein brachte. Halbarad ging ein Stück in den Wald hinein und kehrte mit einem Arm voll feuchter Zweige zurück. Nachdem er das Feuer ein wenig genährt hatte, kletterte er wieder auf den Baum und gesellte sich zu Beravor. „Beravor, du übernimmst die erste Wache", sagte er. „Weck mich gegen Mitternacht und vergiss nicht, Holz nachzulegen." Nachdem die beiden ein karges Essen zu sich genommen hatten, lehnte er sich gegen den Baumstamm, schloss die Augen und war bald darauf, wie Beravor an seinen gleichmäßigen Atemzügen erkannte, eingeschlafen. Sie selbst wurde auch immer schläfriger, als sie in das unter sich flackernde Feuer starrte. Um sich wach zu halten, zog sie den Bogen hervor und spannte ihn, was sich, auf einem Baum sitzend, als nicht einfaches Unterfangen herausstellte, doch irgendwann war es ihr gelungen. Doch es war noch lange nicht Mitternacht, wie Beravor anhand der Sterne erkannte. Sie zog ihr Schwert und begann, es zu schärfen. Nach einiger Zeit fuhr sie mit der bloßen Fingerkuppe über die geschärfte Klinge. Sie zuckte zusammen, und ein Blutstropfen fiel in den weißen Schnee unter ihr. Beravor lächelte zufrieden über ihre Arbeit.

Als es langsam Zeit wurde, Halbarad zu wecken, hörte Beravor den Schnee knirschen. Irgendwo im Wald versteckte sich etwas, und es kam auf sie zu. Sie schüttelte Halbarad leicht und dieser schlug im Nu die Augen auf. „Was ist los?", fragte er flüsternd, da Beravor den Zeigefinger an die Lippen gelegt hatte.
„Dort draußen ist etwas, und es kommt auf uns zu." Halbarad nickte kurz und griff nach seinem Bogen. Geräuschlos richtete er sich auf dem dicken Ast auf und spähte in die Nacht. Beravor tat es ihm gleich, konnte aber nichts erkennen. Doch Halbarad sah etwas.
„Dort drüben hat sich etwas bewegt, obwohl kein Wind weht. Was auch immer es ist, es bewegt sich in Richtung Nordwesten." Lautlos zogen Beravor und er Pfeile aus den Köchern und legten sie ein. Kurz darauf brachen fünf Orks aus dem Gebüsch. Sie mussten das Feuer gesehen oder die Waldläufer gewittert haben. Beravors erster Pfeil fand sein Ziel in der Kehle eines Orks, Halbarad brachte ebenfalls eine der Kreaturen zu Fall. Die übrigen drei Orks schien das nicht zu interessieren, sie stürmten weiter, auf die Eiche, die Beravor und Halbarad als Nachtlager diente, zu. Doch die Sehnen der Bögen flirrten erneut und es war nur noch ein Ork übrig, dieser jedoch war schon so nah, dass die Waldläufer durch die Äste hätten schießen müssen, die sehr dicht waren und ein Zielen erschwerten. Halbarad drückte Beravor seinen Bogen in die Hand und sprang behände auf den Boden. Er kam sanft auf und hatte sofort sein Schwert in der Hand, durch welches auch der letzte Ork getötet wurde. Bis auf das Gurgeln der Orks war alles völlig still von Statten gegangen.

„Es war gut, mich zu wecken", meinte Halbarad, nachdem er wieder hinaufgeklettert war.
„Du wärst so oder so aufgewacht", entgegnete Beravor.
„Nein, im Ernst. Durch dein Handeln konnten wir uns gut auf die Geschehnisse vorbereiten. Du bist erwachsen geworden, das merkte ich schon gestern, als ich dich alleine traf. Ich bin mir sicher, du wärest mit den Orks auch ohne mich fertig geworden, dennoch hast du um Hilfe gebeten. Ich habe eine Beravor in Erinnerung, die das nicht getan hätte, weil sie meinte, sich unter den Dúnedain beweisen zu müssen." Beravor lächelte verlegen.
„Doch das ist schon über zehn Jahre her. Natürlich bin ich seitdem vernünftiger geworden." Ja, damals hatte sie sich töricht verhalten. Sie war mit einigen anderen jungen Waldläufern unter der Führung Halbarads unterwegs gewesen, doch hatte sie geglaubt, alleine gegen vier Orks kämpfen zu können und hatte die anderen nicht aufgeweckt, was fast ihr Tod gewesen wäre.
„Schlaf nun, Beravor." Halbarad riss sie aus ihren Gedanken. Beravor nickte und lehnte sich gegen den kalten Stamm, der ihr ein wenig Sicherheit gab. Dann überrollte sie eine Welle der Müdigkeit und sie bekam nur noch mit, wie Halbarad sich wieder aufrichtete, um nach weiteren möglichen Gefahren auszuschauen, dann war sie eingeschlafen.

Beravor spürte, dass sie leicht geschüttelt wurde. Sie hatte sich noch keinen so leichten Schlaf angelernt wie Halbarad, darum brauchte sie einige Sekunden, um richtig wach zu werden. Trübes Tageslicht und eisige Kälte begrüßten sie, und Raureif überzog ihr blondes Haar und ihre Kleidung, die ganz steif von der Kälte war. Beravor fror erbärmlich. Sie sah sich kurz um und nach einem Blick nach unten stellte sie fest, dass Halbarad bereits ihr Gepäck auf den Boden gestellt und ein Feuer entzündet hatte. Mit klammen Fingern tastete sie sich voran, als sie an dem rutschigen Stamm hinabkletterte. „Na, hast du gut geschlafen?", fragte Halbarad, als sie sich zu ihm gesellte. Beravor nickte. „Das habe ich gemerkt. Du bist nicht einmal aufgewacht, als ich hinabgesprungen bin. Beravor, so ein tiefer Schlaf kann für einen Waldläufer tödlich sein!" Beravor brummte etwas Unverständliches, sie wusste das und wollte nicht mit Halbarad darüber streiten. „Na gut, ich habe verstanden", sagte dieser, „und wir haben auch Wichtigeres zu tun als zu streiten. Ich habe gesagt, dass ich dir etwas erzählen wollte, und so will ich das nun tun."
Etwas an Halbarads Tonfall ließ Beravor aufmerksam werden, es schien ihr, dass er ernsthaft von etwas bedrückt war. „Erzähle mir, was dir auf dem Herzen liegt", sagte sie.
„Vor wenigen Nächten hatte ich einen sehr eigentümlichen Traum", begann Halbarad. „Ich streifte durch die Wälder von Eriador. Plötzlich trat eine Gestalt ins Mondlicht, mit erhobenen Händen zum Zeichen ihrer friedlichen Absicht. Die Gestalt war in schwarz gekleidet, eine Kapuze verdeckte ihr Gesicht. ‚Seid gegrüßt, Halbarad', sprach die hochgewachsene Gestalt, der Stimme nach zu urteilen ein Mann.
‚Wer seid Ihr?', fragte ich, aber meine Stimme hörte sich weniger sicher und gebieterisch an, als ich es beabsichtigt hatte.
‚Namen tun nichts zur Sache', entgegnete der Unbekannte. ‚Ich bringe Kunde über Euren Stammesfürsten, Aragorn Arathorns Sohn.' Da wurde ich angespannter.
‚Was gibt es über Aragorn zu wissen, das wir nicht schon wüssten?', fragte ich ruhig, doch insgeheim hatte ich Angst vor einer schlimmen Nachricht, denn Aragorn ist vor einigen Monaten von hier weggezogen, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.
‚Herr Aragorn erwartet die Dúnedain in Rohan', sagte der Mann, und ich entspannte mich ein wenig, denn er war noch am Leben. ‚Ihr sollt sobald als möglich zu ihm stoßen. Elladan und Elrohir, die Söhne Elronds, sollen Euch begleiten. Sucht alle Waldläufer, die ihr finden könnt, und schickt sie nach Bree. Versammelt Euch dort und zieht dann über Bruchtal gemeinsam nach Rohan, wo der Herr Aragorn auf Euch wartet. Das war meine Nachricht für Euch. Lebt wohl!' Er deutete eine Verbeugung an und verschwand kurz darauf wieder in der immer noch herrschenden Finsternis des Waldes.

Dann erwachte ich, und für einen Augenblick wollte ich das alles als einen schwachsinnigen Traum abtun. Doch mein Herz sprach eine andere Sprache, und ich wusste, dass es kein gewöhnlicher Traum gewesen war. Ich wusste, dass Aragorn wirklich in Rohan war und unsere Hilfe brauchte. Darum hinterließ ich überall im Wald Zeichen, die die Waldläufer nach Bree schickten, und ich bemühte mich, so viele Waldläufer wie möglich zu finden und sie persönlich zu sprechen, bis ich in jenen unheilvollen Hinterhalt der Orks geriet. Und nun habe ich dich gefunden, und morgen ist der Tag, an welchem sich die Waldläufer in Bree versammeln sollen. Umso glücklicher bin ich, dass ich dich noch gefunden habe, und gemeinsam wollen wir uns nun auf den Weg dorthin machen."

Beravor dachte noch lange über diesen Traum nach und über die Bedeutung dessen, was nun kommen sollte. Sie zweifelte nicht, dass Halbarad die Wahrheit gesprochen hatte, und auch ihr Herz sagte ihr, dass Aragorn tatsächlich ihrer Hilfe bedurfte. Doch sie war sich noch nicht dessen bewusst, was das bedeutete. Sie ahnte, dass etwas Großes nun in Gang gesetzt wurde, und sie ahnte, dass es mit dem länger werdenden Schatten zu tun hatte, der sich nun über alle freien Länder ausbreitete. Doch noch war ihr nicht klar, dass mit einem Schlag am heutigen Tag ihr bisheriges Leben als Waldläuferin, alleine in den Wäldern und Ödlanden von Eriador, ein Ende gefunden hatte.

Der Weg nach Bree verlief ereignislos. Es waren keine Tiere zu sehen, aber Orks ließen sich, zu Beravors Freude, auch nicht blicken. Tagsüber hatte der Wind aufgefrischt. Er stach wie Nadeln in die Gesichter der Dúnedain. Die Sonne ließ sich den ganzen Tag über auch nicht blicken und es wurde beständig kälter. Bei Einbruch der Dämmerung begann es zu schneien. Bald schon fegte der Wind die Schneeflocken durch die Luft, es entwickelte sich ein wahrer Schneesturm. Beravor konnte kaum Halbarad, der nur ein paar Schritte vor ihr ging, im Schneegestöber ausmachen. Doch endlich sah sie vor sich die dunklen Umrisse der Hecke, die Bree umgab, aufragen. Halbarad klopfte an die kleine, ins Stadttor eingelassene Tür, die bald darauf von einem Torwächter geöffnet wurde. Nach einem kurzen Blick in die Gesichter der Waldläufer, die rot von der Kälte waren, ließ er sie eintreten. Beravor nickte dem Mann dankbar zu. Er schien einer der freundlichen Sorte zu sein, die wenig Fragen stellte und auch für die wilden Menschen der Wälder, wie man sie hier nannte, etwas übrig hatte. Dann machten Halbarad und sie sich auf den Weg zum Tänzelnden Pony.

Warme Luft mit Biergeruch schlug ihnen entgegen, als Halbarad die Tür zu dem Gasthaus öffnete. Er schlug seine Kapuze zurück und trat ein, Beravor folgte ihm auf dem Fuß. Der Wirt Gerstenmann Butterblume sah die beiden mit gerunzelter Stirn an. „Zwei weitere Waldläufer? Sagt, ist etwas geschehen?" Halbarad schüttelte leicht den Kopf und bedeutete dem Wirt, sie zu einem Tisch zu führen und ihnen Essen zu bringen. Nach ein paar Minuten hatten er und Beravor eine dampfende Schüssel Suppe vor sich stehen. Beravor legte die kalten Finger an die warme Schale und seufzte erleichtert, als sie begann, diese wieder zu spüren. Doch dann stieß Halbarad sie leicht in die Seite und sie sah auf. Ein Mann näherte sich ihrem Tisch. Er war kräftig gebaut und trug ein Langschwert an der Seite. Eine Kapuze verdeckte sein Gesicht. Langsam kam er auf sie zu. Beravor hatte den Mann noch nie gesehen. Halbarad legte eine Hand an den Knauf seines Schwertes, und auch Beravor schloss die Finger um den Griff ihres Dolches.

Der Weg der Grauen ScharWo Geschichten leben. Entdecke jetzt