18. Kapitel - Die Durchquerung Dunlands

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18. Kapitel – Die Durchquerung Dunlands

Im ersten Moment konnte Beravor nichts sagen, ihre Kehle war trocken und ihr Geist wandte sich in diese und jene Richtung, orientierungslos und überwältigt ob der soeben erfahrenen Neuigkeiten. Ein kurzer Augenblick der Stille erhob sich, Beravor wartete auf ein Geräusch, irgendeinen Laut, der die Stille zu durchbrechen vermochte, doch er kam nicht, niemand hatte sie gehört oder belauscht, kein Spion Saurons, kein Vogel hatte vernommen, was Halbarad soeben gesagt hatte.
„Der Eine Ring", sagte Beravor vorsichtig, leise, um niemandes Aufmerksamkeit zu erregen. Der Eine Ring war der Grund ihres langen Marsches, der Grund für die vielen Mühen und Strapazen, die sie hatte auf sich nehmen müssen, der Grund für das unsägliche Leid und die Finsternis in ganz Mittelerde. Der Eine Ring war gefunden worden. Doch mehr wusste Beravor nicht, und da Halbarad ihre erste Frage beantwortet hatte, hoffte sie, dass er auch ihre zweite beantworten würde.
„Und... Herr Aragorn trägt ihn bei sich?", flüsterte sie, beinahe so unhörbar wie das Rauschen Gwathló hinter ihnen, der entstanden war aus dem Zusammenfluss von Glanduin und Mitheithel.
„Ich weiß es nicht", sagte Halbarad, „noch weiß ich viel über den Weg des Herrn Aragorn. Wir haben lediglich erfahren, dass er sich zurzeit in Rohan aufhält, wo er den Pferdemenschen beim Krieg gegen Saruman, den Verrätern zur Seite steht. Es heißt, er trägt die Klinge Elendils bei sich, die gebrochen ward, Narsil, mit der Isildur, des Königs Sohn, den Ring von Saurons Hand schnitt; und es heißt, die Klinge sei wie ein loderndes Feuer, dass seinem Träger Kraft einflößt und den Feinden Furcht, und es heißt, dass er das Schicksal wenden könne im Krieg der Dunklen Mächte gegen die Freien Völker; doch wie viel von alledem wahr ist, vermag ich dir nicht zu sagen, Beravor. Vieles mag Täuschung sein, von dem wir denken, dass es wahr ist, und manches mag wahr sein, was wir für Trug halten; dies weißt du selbst am besten, meine Blutsverwandte, die ich wie eine Tochter liebe. Ich hoffe, es ist wahr, dass Herr Aragorn, der Erbe Isildurs, lebt und neue Hoffnung verbreitet unter den Menschen, die unter dem Joch Saurons und Sarumans leiden und in steter Angst vor dem Tod in der Finsternis leben müssen. Und ich kann es auch glauben, denn Herr Aragorn ist der größte unter uns, der mächtigste bei Weitem, und in ihm kehrte zurück, was wir für verloren hielten: Der Glanz der Könige von einst, der Stolz und die Lebenskraft der Getreuen von Númenor und die Aussicht auf eine Rückkehr des Königreichs der Menschen mit einem guten und gerechten Herrscher." Halbarad seufzte, sein Blick verlor sich in der weite der vor ihnen liegenden Ebene von Dunland.
„Was beschwert dein Herz, Halbarad?", fragte Beravor.
„Nun, meine Tochter", Halbarad hielt inne; Beravor sah tiefe Sorge in seinen Augen, die so weich waren, dass sie nicht zu der Härte seines Körpers passen wollten; „ich wünschte, du hättest Herrn Aragorn einmal gesehen; ich wünschte, du hättest einmal mit ihm reden können, alleine. Dann wüsstest du, wieso ich Hoffnung habe, wo du keine mehr zu sehen vermagst. Herr Aragorn hat solch unendliche Weisheit und Weitsicht, und seine Worte können eines Mannes Herz zu neuem Mut entflammen, seines Mundes Aussprüche entzünden Hoffnung und Lebensfreude in verzagten Gemütern, sein Blick ist durchdringend und klar wie der eines Elbenfürsten, und doch ist er nicht unnahbar oder erhaben, sondern offen für die Herzen aller Rassen, er spricht ihre Sprachen, und auch die Sprachen ihrer Herzen. In seiner Gegenwart fühlt man sich sicher, man spürt, ohne es zu wissen, dass man beim König ist, man kann sich ihm öffnen, oder er liest im Schweigen die Sorgen und Bedürfnisse von deiner Seele. Ich konnte mich ihm stets anvertrauen und auf ihn und seinen klugen Rat verlassen. Und ich glaube, du hättest ihn auch so zu schätzen gelernt, wie ich es tat, denn wenn wir zu ihm gelangen, so wirst du kaum Zeit finden für eine Unterredung mit ihm." Wieder hielt Halbarad inne und sah Beravor lange an, sowohl Fürsorge und Stolz als auch Furcht lagen in seinem Blick, als er sie musterte. Dann fuhr er fort, doch seine Stimme wurde rau, als hätte er gegen Traurigkeit zu kämpfen gehabt: „Ich glaube, er hätte dich gemocht, wenn er dich bereits kennengelernt hätte. All die Jahre habe ich dich erzogen, Beravor, und dabei übersehen, zu was du geworden bist: du bist groß und schön, erhaben und klug, weise und machtvoll, erfahren und erwachsen. Ich sehe an dir vieles von mir wieder, meine Tochter. Die Gestalt magst du von deinen Eltern haben, doch die Fähigkeiten, die dir eigen sind, gleichen denen der Linie des Königshauses, welcher ich nahe verwandt bin. Ich bin stolz auf dich, Beravor, obgleich es zu einem verschwindend geringen Teil meine Leistung ist, die dich zu dem machte, was du bist. Ich spüre einen starken Lebenswillen in dir, doch ebenso die Verzweiflung, von der ich sagte, dass Herr Aragorn sie einem nehmen könnte. Und darum wünschte ich, du hättest ihn einst zu Gesicht bekommen und mit ihm geredet, denn dann würde dein Lebensgeist nun heller flammen als die Dunkelheit deines verzagten Herzens, und du würdest die Lage anders sehen, als du es tust. Denn du weißt, dazu bist du wahrlich klug genug, dass dies vieler Waldläufer letzte Reise wird, und du fürchtest, dass du zu diesen gehörst. Doch ich sage, dass du weit stärker bist als der ihren die meisten, denn du vermagst alle deine Talente einzusetzen im Kampfe. Doch nicht nur dort, denn für einen Waldläufer ist es auch wichtig, dass er sich den Menschen, die unter seinem Schutz stehen, verantwortlich fühlt, und du bist gewissenhaft und pflichtbewusst wie kein zweiter Waldläufer, den ich bisher kennen lernte. Und darum, lasse dir eines sagen: Dein Stunde wird schlagen und dein Tod wird kommen, doch nicht durch die Gewalt Saurons oder eines anderen Dunklen Magiers, jedenfalls nicht, wenn ich irgendwelche Kraft aufzubringen vermag; denn merke dir gut, meine Tochter: ich bin dein Vater, ich habe dich erzogen und alles gelehrt, was du kannst, du bist das wertvollste, was mir geschenkt wurde; ich habe dich wie ein Vater erzogen, und ich werde dich wie ein Vater verteidigen."
Beravor hatte zugehört und gestaunt, wieviel der sonst eher wortkarge Halbarad ihr zu sagen gehabt hatte, und noch erstaunter war sie gewesen über das, was er gesagt hatte. Sie begriff langsam, was Halbarad mit seiner Rede über Aragorn versucht hatte, ihr vor Augen zu führen: die Worte eines von Hoffnung beseelten Menschen konnte anderen Menschen Mut machen. Und sie fühlte sich besser. Sie fühlte sich von Halbarad wertgeschätzt, nicht nur durch seine Worte, welche sie zutiefst berührt hatten, sondern auch durch seinen väterlichen Blick, den sie seit ihrer Kindheit in den Wäldern der Trollhöhen nicht gesehen hatte, den sie mit der Aussicht auf ein geborgenes Heim und auf wärmende und tröstende Arme verband, die sie, wenn sie Angst hatte oder traurig war, offen und freundlich, väterlich verständlich und tröstend aufnahmen und umschlungen hielten; sie fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben nicht als Nachwuchs, als Kind, das beschützt werden musste und nur unwillig allein gelassen wurde, sondern als machtvolle Nachfahrin der Númenórer, als Dúnadan, als vollwertige Waldläuferin; sie war nicht mehr ein junges Mädchen oder eine schwache Frau, schwach deshalb, weil sie kein Mann war; sondern als Kriegerin, als Teil einer außergewöhnlichen Schar von Menschen, die, so unterschiedlich sie auch waren, doch ein Schicksal teilten, und, so gleich sie waren, doch unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie spürte, dass Halbarad sie tief berührt hatte in ihrem Herzen, viel tiefer noch als sie je geglaubt, seit sie ihre Eltern verloren hatte. Plötzlich spürte sie, dass in ihr etwas zu schmelzen begann, was ihre Gefühle die ganze Zeit bedrückt hatte; sie spürte Hoffnung in ihrem Herzen aufflackern wie die erste Glut eines Feuers; sie sah, wie ihr Blick trüb wurde und eine Träne der Erleichterung ihre Wange herunterfloss. Als sie sie wegwischen wollte, spürte sie ihre rauen Finger auf ihrem Gesicht, es schien ihr, als würde sie zum ersten Mal ihren eigenen Körper wirklich spüren, mit allen Sinnen wahrnehmen, und es tat ihr gut. Denn Halbarad hatte ihr etwas gegeben, was sie vermisst hatte, ohne es zu wissen, das sie bei anderen Waldläufern und auch bei Istavor vermisst hatte. Vertrauen und Anerkennung hatte Halbarad für sie, dies hatte er schon gezeigt, als er ihre erste Frage beantwortet hatte. Warum ihr und nicht anderen Waldläufern? Weil er ihr vertraute und wusste, dass sie ihren Schwur nie brechen würde; weil sie für ihn eine Tochter war und nicht bloß ein Adoptivkind. Weil er sie als Vater liebte. Da spürte Beravor, dass auch sie ihn liebte, als ihren Vater. Ihre Gefühle wurden zu stark, sie zwang sich, diese unter Kontrolle zu halten. Sie wischte mit dem Arm über ihr Gesicht und ihr Blick klärte sich auf. Sie hob ihren Kopf und sah Halbarad an, lange und unnachgiebig, und dieser sah sie an; und beide wussten, was der andere ihnen zu sagen hatte.
Nach einiger Zeit, Beravor vermochte es nicht einzuschätzen, neigte sie ihren Kopf leicht zum Gruß und sprach die Worte, die sie lange schon hatte sagen wollen:
„Ich danke dir, Vater." Und damit ritt sie zum hinteren Teil des Zuges und suchte Istavor.

Der Weg der Grauen ScharWo Geschichten leben. Entdecke jetzt