28. Kapitel - Der Hafen von Gondor

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Beravor erwachte früh am nächsten Morgen, und obwohl der Himmel immer noch von den üblen Dämpfen Mordors verhüllt war, und daher stets dunkel, erkannte sie dennoch, dass die Sonne noch nicht aufgegangen war. Sie musste nur wenige Stunden geschlafen haben. Und dennoch sah sie, dass Aragorn an der Spitze des Zuges schon aufgestanden war, ein stiller Schatten, und dennoch abgehoben von der Dunkelheit von Nacht und Schrecken, die sie umgab, und er schien wie ein fester Fels in der rauschenden Brandung, die den herannahenden Sturm ankündigte, dem sie nun entgegenritten und der an anderen Orten bereits voller Zorn und Verderben wütete. Aber Aragorn wankte nicht, und seine Erscheinung gab Beravor Mut und die Stärke, weiterzureiten, obwohl sie nur wenig geschlafen hatte und jeder Ritt an ihrer Kraft zehrte. Beravor wusste, dass ihre kurze Rast bereits zu Ende war, und sie machte sich für den erneuten Aufbruch bereit. Mittlerweile hatte sie aufgehört, die Tage zu zählen, die sie schon geritten waren, sie erinnerte sich nur noch verschwommen an die vielen Lager, die die Dúnedain bereits errichtet und wieder abgebrochen hatten, und kaum noch konnte sie sich die Zeiten in Erinnerung rufen, da sie alleine durch die grünen Wälder von Eriador gestreift war, ohne Helm und Pferd, ohne Begleiter, dafür auch ohne große Sorgen, Sorgen, die die Vorstellungskraft jedes Menschen sprengten, Sorgen um das Ende all der Dinge, die es noch in Mittelerde gab und die noch Schönheit und Frieden in sich trugen. Beravors Körper schmerzte vom langen Ritt, doch mittlerweile nahm sie diesen Schmerz kaum noch war, so sehr war er ihr ein stetiger Begleiter geworden. Nun schüttelte sie all diese Gedanken, die Schmerzen und ihre Müdigkeit ab, denn sie musste ihren Blick auf das richten, was vor ihr lag. Und vor ihr und allen anderen Mitgliedern der Grauen Schar lagen gewaltige Schlachten. Im Augenblick verfolgten sie die fliehenden Feinde zum Hafen von Gondor, Pelargir, und dort, so glaubte Beravor, erwartete Aragorn das erste ernsthafte Kräftemessen mit den Streitmächten des Feindes. Nach der Enttäuschung bei Linhir, wo die Toten, die mit ihnen ritten, alle Gegner in die Flucht geschlagen hatten, bevor sie überhaupt wirklich dort angekommen waren, hoffte Beravor nun, dort wirklich kämpfen zu können, denn in den letzten Tagen war ihr Kampfgeist erwacht, und ihr Körper spürte, dass sich das Ende nun mit großen Schritten näherte und dass es nunmehr unausweichlich war, und es dürstete Beravor danach, endlich selbst tätig zu werden und nicht mehr nur zuzusehen bei dem Spiel der Mächte von Gut und Böse.

Beravor hatte sich gerade für den Weiterritt fertiggemacht, als auch schon das Zeichen zum Aufbruch gegeben wurde. Die Graue Schar versammelte sich um Aragorn, und neben ihm saß Halbarad, ein stiller Schatten in der langsam verstreichenden Nacht, Würde und Weisheit und Stärke verkündend, und doch wirkte er merkwürdig klein und unbedeutend neben Aragorn, seinem und ihrem König und Führer, und dieser saß auf Roheryn, stolz, aber nachdenklich und von Sorgen geplagt, und wenn Beravor sein Gesicht hätte erkennen können in den Schatten der Nacht, denen die düsteren Wolken Mordors auch noch das Licht der Sterne und des Mondes verweigerten und es unbarmherzig aussperrten, so hätte sie die Angst und die Zweifel in seinen Augen gesehen und die Falten der Furcht in seinem Angesicht, und dann wäre ihr Mut vielleicht gesunken, mehr noch als nun, da sie seine Stimme hörte: „Seht!", sagte er, „Schon wird Minas Tirith angegriffen. Ich fürchte, es wird fallen, ehe wir ihm zu Hilfe kommen." Beravor verstand nicht genau, was er meinte, denn Minas Tirith war noch viel Meilen von ihnen entfernt, und nicht einmal das Auge des scharfsichtigsten Elben hätte die Stadt von hier sehen können. Doch Beravor ging davon aus, dass Aragorn Dinge wusste, die ihr verborgen waren, und dass seine Angst nicht unbegründet war. Doch Aragorn sprach kein weiteres Wort mehr an diesem Morgen, und keiner fragte ihn, woher er seine Furcht nahm und was er wusste, und Aragorn wendete sein Pferd und trieb es weiter nach Osten, ins Dunkel der Nacht hinein, und Halbarad ritt gleich hinter ihm, sein treuester Gefolgsmann und ältester Vertrauter, und viele Dúnedain waren noch zwischen ihm und Beravor, doch Beravor folgte mit Gwaelim, und sie ließ sich bald noch ein wenig zurückfallen, um wieder neben Istavor zu reiten. Auch Rovaldil war wieder dicht bei ihnen, und hin und wieder meinte Beravor in der Dunkelheit zu erkennen, dass er sich verstohlen nach ihnen umwandte, doch das Zwielicht verhinderte, dass sie klar sah, und später wusste sie nicht einmal mehr, ob sie sich nicht alles lediglich eingebildet hatte, so, wie sie auch vom Ritt in dieser Nacht nicht mehr viel wusste, denn das Land zog grau und verschwommen an ihnen vorbei, wie sie in aller Hast ritten, und es wurde kaum besser, als sie schließlich im Osten die leise Ahnung des Sonnenaufgangs sahen wie den zaghaften und zum Scheitern verurteilten Versuch des Guten, die üble Finsternis zu durchbrechen, und den ganzen Tag über ritten sie im Zwielicht der Dünste Mordors wie unter einer Kuppel von Gift und Feuer; und schon seit vielen Tagen sprachen die Dúnedain nicht mehr, wie sie es am Anfang ihrer langen Reise oft getan hatten, und sie sangen keine Lieder mehr, und auf all ihren Gesichtern lag bereits der Schatten des Todes. Fahl wie Asche war ihre Haut im trüben Licht des Tages, der nie aus der Dämmerung finden sollte, und doch ritten sie weiter, stumm und in dunkler Vorahnung, aber ohne Furcht und mit dem eisernen Willen der Menschen, die einst als die Getreuen aus Númenor gekommen waren.

Sie ritten nun über die Ebenen des Landes Lebennin, eines Lehens von Gondor, und wie Lamedon, das sie hinter sich gelassen hatten, war dies ebenfalls ein grünes und fruchtbares Land, von vielen Strömen durchflossen, und glücklich war es dort gewesen in den Jahren des Friedens; doch nun lag es farblos da, als sei es schon abgestorben unter den verheerenden Wolken des Feindes, als sieche es dahin und sei dem Tode schon näher als dem Frühling, der nun eigentlich durch die Lande ziehen sollte. Beravor hätte es gejammert, dieses grüne, baumbestandene Land so grau und krank zu sehen, wie es im trüben Licht des dunklen Tages erschien, wenn sie darauf geachtet hätte, als sie daran vorbeiritten, doch ihr Denken war von vielen anderen Dingen eingenommen, und sie hatte keinen Platz mehr in ihren Gedanken für die Belange eines Landes, das ihr fremd war und unter dem Schleier des Feindes lag. Alles, was sie dachte, war nach vorne gerichtet, auf die Schlachten, die dort lagen, und je näher sie all dem kamen, was sie erwartete, desto geringer wurde die Furcht davor in Beravors Herzen, sondern eine seltsame Übereinkunft schien ihr Sinn getroffen zu haben: Sie fiel im Kampfe, und die Länder fielen endgültig unter die Schatten Mordors, oder sie überlebte, um das zu sehen, was niemand für möglich hielt, den Sieg der Freien Völker und der Niederwurf der Schatten. Beinahe schien ihr Geist das Schicksal anzunehmen, dass sie sterben würde, und sie kam sich beinahe schon beängstigend ruhig vor bei diesem Gedanken. Doch Beravor war noch jung, und im Grunde ihres Herzens standen die Füße ihrer Menschenseele noch fest auf dem Boden dieser Welt, und sie war noch nicht ihrer Wunder müde und sehnte sich nicht danach, den Kreisen Ardas zu entfliehen, wie es die Gabe der Menschen war; und darum, obwohl sie sich mit dem Tod abfinden zu können glaubte, so brannte in ihr doch insgeheim die Flamme des Lebens noch hell, und sie liebte die Erde noch viel zu sehr und die, die darauf wandelten, als dass sie bereit gewesen wäre, es ohne den größten Kampf und alles, was sie aufbieten konnte an Kraft und Widerstand, einfach wegzuwerfen. Und doch lag auch über ihrem Schicksal ein Schatten und der unbarmherzige Schleier der Ungewissheit, was kommen mochte. Aber sie wankte nicht und verfiel nicht in Angst, sondern sie riss sich zusammen, und sie verlor sich nicht erneut in den ewig kreisenden Gedanken an Leben und Tod und das unabwendbare Schicksal der Menschen, dem auch sie nicht entkommen konnte, sondern richtete ihren Blick wieder fest nach vorne, dem Krieg entgegen und den Aufgaben und Mühen des echten Lebens, dem handfesten Kampfe Mann gegen Mann, fernab von allen tiefgründigen Gedanken, die am Ende doch nur auch das hellste Gemüt in ihrem Strudel aus Unsicherheit und Angst verschlangen. Als sie so entschlossen nach vorne blickte, traf sich ihr Blick auf einmal mit dem Rovaldils, und diesmal wusste sie ganz sicher, dass er sich umgedreht und sie angesehen hatte; und als Rovaldil sie sah, mit ihrem unnachgiebig nach vorne gerichteten Blick, der dem Schicksal trotzig ins Gesicht sah, und den zusammengepressten Lippen, da musste er schmunzeln, denn es war ein wahrhaft merkwürdiger Anblick, wie unter all den anderen Dúnedain mit ihren fahlen und ausdruckslosen Gesichtern eines war, das ein wenig rot angelaufen war vor Anstrengung und tiefen Trotz und funkelnde Entschlossenheit zeigte; und dennoch musste Rovaldil sich eingestehen, dass das die Schönheit ihres Gesichtes nicht zu mindern vermochte, sondern im Gegenteil all die Menschlichkeit zeigte, die Beravor innewohnte und die die Menschen so von den Elben unterschied: die kleinen Ungleichmäßigkeiten der Haut, das trotzig vorgeschobene Kinn, die ein wenig hohen Wangenknochen und das ungewöhnlich helle Haar, das noch unter dem Helm hervorlugte; und er glaubte, unter dem Helm noch die blauen Augen hervorblitzen zu sehen, obwohl es dafür eigentlich zu dunkel war. Doch als Rovaldil bemerkte, dass Beravor seinen Blick erwiderte und er seines eigenen Lächelns gewahr wurde, drehte er sich sogleich um, und er schämte sich etwas dafür, dass er für die Entschlossenheit seiner eigenen Stammesschwester nur ein Lächeln und keine Bewunderung oder Anerkennung übrig gehabt hatte, auch wenn er in seinem Innern wusste, dass es ein Lächeln aus Freundschaft und Liebe gewesen war, das er ihr, ohne es selbst gewollt zu haben, geschenkt hatte.

So ritten die Dúnedain über die Felder und Wiesen von Lebennin, und sie kamen schnell voran, denn ihr Weg war eben und das Gras unter den Füßen ihrer Pferde war weich; und nie trat eines der Tiere fehl. Unermüdlich preschten sie voran, denn sie spürten den eisernen Willen ihrer Herren, und diese wiederum waren getrieben von der Liebe und Treue zu ihrem König. Dieser Ritt an der Spitze des Zuges, und neben ihm ritt Halbarad, sein Vertrauter. Obwohl sie durch ihre kurze Rast in der Nacht einiges an Zeit verloren hatten, so holten sie dennoch mit jeder Stunde zu den Feinden auf, die sie verfolgten, und Aragorn wusste, dass der Hafen von Pelargir immer näher rückte. Doch noch waren sie von ihrem Ziel weit entfernt, und die Zeit war gegen sie, und mit jedem Augenblick, der verstrich, rückte Gondors Niederlage näher. Aragorn aber wusste, dass er die Dúnedain zwar mit seinem Willen stärken und immer weiter vorantreiben konnte, dass sie aber trotz allem der Erschöpfung erliegen würden, wenn sie nicht irgendwann rasteten. Ohnehin war der Weg nach Pelargir noch zu weit, um ihn am heutigen Tage erreichen zu können, und darum besprach er sich mit Halbarad, und sie entschieden, heute noch so weit wie möglich zu reiten und dann zu rasten, damit sie am nächsten Tag, wenn sie den Hafen erreichen würden, ausgeruht und kräftig genug sein würden, um gegen die dortige Streitmacht der Feinde zu kämpfen. Es schmerzte Aragorn, einen weiteren Tag zu verlieren, doch er musste sich eingestehen, dass es besser war, spät anzukommen als gar nicht. Und auch Halbarad überzeugte ihn davon, dass dies die bessere Wahl war, denn er war von Anfang an der Führer der Grauen Schar gewesen und konnte einschätzen, wie weit die Dúnedain gehen konnten in ihrer scheinbar unermüdlichen Ausdauer; und er dachte auch, ohne es zu sagen, an Beravor, der er vor der Schlacht noch einmal Mut zusprechen wollte und die, wie er wusste, von dem langen Ritt sehr erschöpft wurde.

Beravor indes bekam von all diesen Überlegungen freilich wenig mit. Sie ritt stumm auf Gwaelim, und das Land zog an ihr vorbei wie in einem wachenden Traum. Sie zählte nicht die Stunden, die vergingen und nicht die Meilen, die sie zurücklegten. Im Zwielicht, das der dunkle Herrscher heraufbeschworen hatte, sah die Landschaft überall gleich aus, und nichts konnte dem Auge Abwechslung verschaffen. Die Anstrengung eines langen Rittes begann im Laufe des Tages wieder von Beravor Besitz zu ergreifen, und obwohl es nicht sonderlich warm war, so fing sie dennoch bald unter ihrem Helm zu schwitzen an, bis sie ihn schließlich wieder von ihrem Kopf zog. Sie wusste ohnehin nicht, wie lange es noch dauern würde, bis die so heiß ersehnte Schlacht endlich kommen würde, und im Augenblick schien es ihr nicht so, dass es noch am heutigen Tage so weit sein würde. Sie befestigte ihn wieder an der Seite des Sattels und spürte endlich wieder den Wind in ihrem Gesicht. Kurz schloss sie ihre Augen und stellte sich vor, frei über die weiten Ebenen von Eriador zu reiten, die ihr Zuhause waren, und in ihren Gedanken konnte sie das zarte Licht der Sonne spüren, die sich hinter hellen Wolken versteckte, und den warmen Frühlingsregen auf ihrer Haut. Doch dann öffnete sie ihre Augen wieder und sah die Düsternis des Tages und den Schatten des herannahenden Krieges, und alle Erinnerung an ihr altes Leben verblasste. Dann spürte sie bald nur noch die gleichmäßigen Bewegungen Gwaelims unter sich und den Schmerz in ihren Gliedern, und so ritt sie noch einige Stunden einher, neben Istavor, die ebenso tief in Gedanken versunken schien und ihre Augen schon seit langer Zeit halb geschlossen hielt; und vor ihr war Rovaldil, aber er blickte sich nicht mehr nach ihnen um, und auch sonst regte er sich kaum, und auch Beravor wurde bald schläfrig, denn der lange Ritt war anstrengend und ermüdend, und sie hatten schon seit vielen Tagen keine Pause mehr gemacht, die länger gewesen war als eine kurze Nacht; und das eintönige und gleichmäßige Schlagen der Hufe unter ihnen, unaufhörlich zu Beravors Ohren emporsteigend, ließ Beravors Augen bald zufallen, als lullten sie sie in einen gefährlichen Tagesschlaf, aber Beravor fand keine Ruhe auf dem Rücken ihres Hengstes.

Einige Stunden ritten die Dúnedain noch an diesem Tag, und bald versank die Sonne irgendwo im Westen, auch wenn niemand sie hatte erblicken können den ganzen Tag über; und immer noch ritten sie weiter, bis in die Nacht hinein, auf den Fersen ihrer Feinde, die sie nach Pelargir verfolgten. Schließlich jedoch ließ Aragorn die Schar halten, auf freiem Felde, und in aller Eile wurde ein Lager errichtet und Wachen aufgestellt, damit sie die kurze Zeit, da sie sich ausruhen durften, bestmöglich ausnutzen konnten. Auch Beravor stieg ein weiteres Mal von ihrem Pferd ab und richtete sich schnell ein, und Istavor lagerte wieder gleich neben ihr. Der Beutel mit Vorräten ging allmählich zur Neige, wie Beravor feststellte, als sie sich daraus etwas für ein karges Abendessen nahm, doch sie meinte (oder hoffte), dass es noch ausreichen würde, bis sie an einen Ort gelangten, wo sie sich erneut versorgen konnten – oder im Kampf fielen. Sie setzte sich schweigend neben ihre Freundin, und die Last dessen, was geschehen war, und dessen, was geschah und was noch kommen sollte, bedrückte ihrer beider Gemüter. Die Nacht lastete schwer auf ihnen, denn die Luft war voll von den Dämpfen des Schwarzen Landes, und der Blick auf die Gestirne Vardas war verdeckt von den dunklen Wolken. So böse schienen diese zu sein, dass sie sogar die Erinnerung an klare Nächte aus den Köpfen der Dúnedain zu vertreiben vermochten, denn kaum noch konnte sich Beravor an den Glanz der Sterne im fernen Land Eriador erinnern, wo die Luft rein gewesen war, unberührt, so hatte es geschienen, von den Giften des Feindes. Beravor musste die Gedanken an ihre alte Heimat verdrängen, denn sie wusste, dass sie für immer der Vergangenheit angehörte. Am Horizont sah sie zwei Wege, und einer davon führte in den Tod, der andere aber führte in eine Welt der Freiheit, aber es war eine Welt, in der Beravor keinen Platz mehr hatte, in der die Dúnedain des Nordens keinen Platz mehr hatten. „Nichts wird mehr so sein wie früher", sagte sie leise, wie zu sich selbst. Doch Istavor hatte ihre Worte gehört.
„Recht hast du", sagte sie, ebenso leise, „und dennoch mag ich hoffen, dass es auch dann noch Freude und Licht geben wird, solange wir dem Dunklen Herrscher jetzt die Stirn bieten können."
„Ja, Freude und Licht", sagte Beravor, „aber für wen? Für uns, für die Elben, Zwerge oder Hobbits? Oder für die niederen Menschen in ihren einfachen Häusern, die zur Gnade ihrer Unwissenheit dann auch noch den Lohn der Freude erhalten? Nie hatten sie Dank für uns übrig, und doch haben wir um ihretwillen die Geschöpfe des Feindes gejagt, und um ihretwillen kämpfen wir nun und gehen unserem eigenen Tod entgegen. Und selbst wenn wir jetzt wider alle Hoffnung siegen sollten, wenn wir jetzt die einfachen Menschen vor einer Gefahr retten sollten, von der sie nie etwas wussten, wohin werden wir dann zurückkehren? In eine Welt, die uns nicht nur keinen Dank entgegenbringt und noch nie entgegengebracht hat, sondern uns auf einmal nicht einmal mehr braucht? Sollen wir sesshaft werden, Rinder züchten, Ziegen hüten und Schweine mästen, bis wir verrotten, oder uns auf ewig in den Gasthäusern verspotten lassen?"
„Darüber können wir uns Gedanken machen, wenn der Krieg gewonnen ist."
„Falls er gewonnen wird", sagte Beravor, und für eine Weile schwiegen beide.

Beravor war so tief in ihre Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie Halbarad zu ihr getreten war, und sie sah erst auf, als er sie ansprach. „Morgen", sagte er, „werden wir am Nachmittag den Hafen von Pelargir erreichen. Du solltest dich ausruhen, denn heute können wir einmal länger rasten als gewöhnlich."
„Warum das?", fragte Beravor erstaunt, aber nicht unerfreut, denn sie war tatsächlich sehr erschöpft von den unermüdlichen Ritten der Grauen Schar, die Tag und Nacht angedauert hatten, und sie war froh zu hören, dass es ihnen einmal zumindest vor der Schlacht vergönnt sein würde, sich vernünftig auszuruhen.
„Aragorn und ich haben den Weg so eingeteilt, dass wir morgen nicht mehr solange reiten müssen wie heute." Er zog aus seiner Tasche eine alte Karte und breitete sie auf dem Boden aus, dann entzündete er eine kleine Lampe. Beravor erkannte Gondor, denn sie hatte mit Halbarad lange die Karten von Mittelerde studiert und von ihm die Namen aller Orte und Flüsse und Berge gelernt, die es im Dritten Zeitalter der Welt noch gab. Und doch hatte sie sich nie träumen lassen, tatsächlich einmal etwas anderes zu sehen als die Weiten von Eriador, erst recht nicht die südlichen Lehen des mächtigen Reiches Gondor, die schon an das Meer grenzten. Halbarad deutete auf eine Stelle nicht weit von dem Ort entfernt, wo der Sirich in Anduin den Großen einmündete. Dies war Pelargir, der Hafen von Gondor.
„Dort liegt der Hauptteil der Flotte der Corsaren aus Umbar", sagte Halbarad, „oder zumindest sagt Aragorn das. Wir sind heute siebzig Meilen geritten, und das bedeutet, dass es morgen nur noch fünfunddreißig Meilen sein werden, bis wir den Hafen erreichen werden." Er deutete auf einen weiteren Punkt auf der Karte, mitten auf den Ebenen von Lebennin, und Beravor wusste, dass er ihr ihren Lagerplatz zeigte. Da erkannte sie, mit welcher Klugheit die Führer der Schar den Weg eingeteilt hatten, und sie dankte Halbarad, denn nun durfte sie hoffen, bei Beginn des Krieges zumindest beinahe wieder im Besitz all ihrer Kräfte zu sein. Halbarad lächelte. „Darum habe ich dich heute auch für keine Wache eingeteilt", sagte er, und Beravor dankte ihm ein weiteres Mal, denn sie wusste, dass all dies die Sorge eines Vaters für seine Tochter war, und sie war froh, dass Halbarad sich so um sie kümmerte.
„Vielleicht habe ich dann doch die Kraft, die morgige Schlacht zu überleben", sagte sie halb ernst und halb scherzend.
„Das hast du, Beravor", sagte Halbarad, „und du hast viel mehr Kraft in dir, als du denkst. Ich weiß, dass du das Ende dieses Krieges sehen wirst, wenn es ein gutes ist. Und darauf hoffe ich." Dann wünschte er ihr und Istavor eine gute Nacht und schied von ihnen, und er ging zurück zu Aragorn, seinem Vetter, mit dem er sich noch bis tief in die Nacht besprach.

Tatsächlich konnte Beravor am nächsten Tag lange schlafen, und als sie schließlich erwachte, war der Himmel bereits vom bekannten Zwielicht der wolkenverdeckten Sonne erfüllt. Als sie sich aufsetzte, spürte sie die zurückgewonnene Kraft, und nach einer kurzen Mahlzeit fühlte sie sich, als könne sie gleich weiterreiten, und die Kampfeslust ergriff wieder Besitz von ihr, denn nun schien es wirklich, als stehe ihnen eine Schlacht kurz bevor, da auch Halbarad es so gesagt hatte, und es schien, dass sie sich nicht länger nur auf die Furcht verlassen konnten, die die Geister hinter ihnen heraufbeschworen. Darum gürtete sich Beravor mit ihrem Schwert, und als sie dessen Griff umfasste, spürte sie die Stärke der Dúnedain in ihrer Hand, und sie konnte es kaum noch abwarten, wieder auf Gwaelim zu steigen und endlich den Krieg zu beginnen, vor dem sie sich so lange gefürchtet hatte und nach dem sie sich nun so sehr sehnte.
„Bald ist es soweit", sagte Istavor neben ihr nachdenklich, „und ich muss gestehen, dass ich Furcht empfinde im Angesicht eines Krieges von solch gewaltigen Ausmaßen."
„Lange hatte ich ebenfalls Angst", sagte Beravor, „aber kurz vor einem Kampf vergeht sie meist, und umso mehr, je erfahrener der Kämpfer ist, der sie erwartet. Jetzt fühle ich mich seltsam ruhig und empfinde beinahe so etwas wie Freude, jetzt, da das Warten endlich ein Ende haben soll. Denn des eigenen Schicksals untätig zu harren bereitet mir mehr Furcht, als es selbst in meine Hand zu nehmen."
„Erfahrene Kämpfer vielleicht", sagte Istavor, „und du hast schon so manchen Gegner erschlagen und viele Angriffe alleine überlebt. Ich aber bin nicht ruhig, denn obgleich ich auf meine Fertigkeiten mit dem Schwert vertraue, so habe ich doch selten alleine gejagt oder mich in scheinbar ausweglosen Lagen wiedergefunden. Darum fürchte ich mich nun, denn die Größe dessen, was uns nun bevorsteht, übertrifft alles, was ich mir vorstellen kann, und das bereitet mir Kummer und große Sorgen."
„Bange nicht, Istavor", antwortete Beravor, „denn auch in dieser Schlacht wirst du nicht alleine sein. Zumindest mich wird niemand von dir trennen können."
Istavor lächelte. „Du beruhigst mich ein wenig, auch wenn niemand weiß, was geschehen wird. Doch ein Schwert neben sich zu wissen, das selten fehlschlägt, ist eine Erleichterung für mein Gemüt."

Noch eine Weile standen die beiden Frauen dort, etwas abseits vom Lager, und blickten in die Ferne, und beide hingen ihren Gedanken nach, was wohl kommen mochte, und der Schatten Mordors war über ihnen. Dann jedoch, gegen Mittag, wurden die Dúnedain zum Aufbruch gerufen, und Beravor folgte Istavor ins Lager zurück. Dort stieg sie auf Gwaelim, und erneut setzte sie ihren Helm auf, denn nun näherten sie sich dem Feind immer weiter, und sie konnten nicht ausschließen, dass er ihnen bereits irgendwo auflauerte. Auch Istavor bestieg ihren Hengst, und als alles bereit war, ritt Aragorn voraus, und die Dúnedain folgten ihm, und hinter ihnen her kamen die Gespenster von Erech. Die wenigen Stunden, die sie nun noch ritten, glichen denen des vorherigen Tages, doch nun brannte in allen Dúnedain die Lust auf den Kampf, und nicht schnell genug konnte es ihnen gehen. Ihre Pferde preschten voran, und im Kampfesmut zogen einige schon ihre Schwerter, und in die Stille hinein sang manch einer ein altes Kampflied in der Sprache von Númenor, der Menscheninsel, die versunken ist. Und es dauerte nicht mehr lange, da sah Halbarad an der Spitze des Zuges in der Ferne die Nachhut der Feinde, die sie verfolgten, und er wusste, dass es nicht mehr weit war bis zum Hafen. Noch einmal dachte er in seinem Herzen an Beravor und wünschte ihr Glück in der kommenden Schlacht, und dann richtete er seinen Blick wieder nach vorne. Beravor dagegen spürte die Vorfreude in ihren Fingern, und sie waren begierig, das Schwert zu packen, und sie wusste nicht, wie lange es noch bis Pelargir war, und sie konnte kaum mehr geduldig bleiben. Und siehe! Plötzlich in der Ferne sah sie einen hohen Turm aufragen, grau unter dem Schleier des Himmels, doch weiß musste er sein, wenn die Sonne schien. Und bald sah sie weitere Türme und rote und weiße Dächer, und da wusste sie, dass Pelargir nicht mehr fern war; und in der Luft roch sie das Salz des Meeres, das in der Nähe sein musste, und diesen Geruch konnte sie nie mehr vergessen. Doch vor dem Zug her sah sie ihre Feinde fliehen, die sie bei Linhir vertrieben hatten, und bald hatten sie die Stadt erreicht. Die Dúnedain aber ritten noch für kurze Zeit, dann jedoch gerieten sie in die Schatten der ersten Häuser, und bald sahen sie die Masten aufragen von fünfzig großen Schiffen, und dann kamen ihre schwarzen Segel zum Vorschein und ihre dunklen Rümpfe. Noch nie hatte Beravor etwas derartiges gesehen, und obgleich die Schiffe der Corsaren schrecklich anzusehen waren, so konnte Beravor ihre Bewunderung für die Kunst, solche Schiffe zu bauen, nicht verleugnen. Doch zum Staunen hatte sie keine Zeit: Denn die verfolgten Feinde hatten die Kais erreicht, und an Bord der Schiffe sah Beravor noch viele weitere Männer ihrer Art, mit grimmigem Blick und zu allem entschlossen. Und für einen Augenblick schienen sie den Grund ihrer Flucht und den Schrecken der Geister vergessen zu haben, denn nun, mit der Sicherheit ihrer Bundesgenossen im Rücken, formierten sie sich und wandten sich den Dúnedain entgegen; und einige lachten und riefen Dinge in ihrer eigenen, grausamen Sprache, die Beravor nicht verstand, die aber von Hohn und Spott und Überheblichkeit zu zeugen schienen. Andere aber hatten denen, die den Hafen besetzt hielten, offenbar vom Schrecken, der sie verfolgt hatte, berichtet, und einige Boote waren bereits losgemacht worden, und auf ihnen versuchten etliche der Feinde zu fliehen; andere wiederum hatten in ihrer Not bereits einige der großen Schiffe in Brand gesteckt, damit sie nicht dem Feind in die Hände fielen, und großes Geschrei erhob sich von Angst und neuerwachtem Grimm. Doch Aragorn saß auf Roheryn und rührte sich nicht, und Beravor fragte sich, wann er endlich das Zeichen zum Angriff geben würde, denn ihre Hand mochte nicht länger warten, und sie fürchtete, einige der Corsaren könnten entkommen. Schließlich hob Aragorn die Hand, und alles wurde mit einem Male still, als habe er auch die Winde des Meeres und das Lachen der Feinde in seiner Gewalt. Dann sprach er mit lauter Stimme, die von den Wänden der weißen Häuser widerhallte: „Nun kommt! Beim Schwarzen Stein rufe ich euch!" Und sofort spürte Beravor, wie ein eisiger Hauch durch sie hindurchfuhr, und für einen Augenblick schien sie wie erblindet und sah nur die Schwärze des Todes vor ihren Augen, und nackte Angst ergriff sie, und sie wusste, dass das Schattenheer gekommen war. Wie ein eisiger Wind fuhr es durch die Reihen der Grauen Schar hindurch und fort, und so wurde Beravor bald von ihren Qualen erlöst, doch die Feinde, die Corsaren aus Umbar und die Haradrim aus dem Süden, wussten nicht, wie ihnen geschah, und großes Geschrei und Angst erhob sich unter ihnen, und niemand lachte mehr. Im Zwielicht Mordors glaubte Beravor hin und wieder, den Schatten eines Menschen zu sehen, der mit seinem durchscheinenden Schwert durch die Feinde fuhr, und manchmal meinte sie auch Pferde zu sehen, bleich wie der wolkenverhangene Mond, und die Feinde flohen vor dem Angesicht der Gespenster des Berges und stürzten sich ins Wasser oder gar ins eigene Schwert, und manche zündeten in ihrer Kopflosigkeit ihre eigenen Schiffe an und verbrannten mit ihnen, und doch war die Flotte der Feinde immer noch groß, während das Schattenheer unter ihnen wütete, weit hinaus auf den Fluss fahrend zu den Schiffen, die dort ankerten, um auch dort mit ihrem Schrecken zuzuschlagen.

Da stieß Aragorn einen gewaltigen Kampfschrei aus und trieb Roheryn an, und so gewaltig war er an jenem Tage, dass keiner der Dúnedain aus Angst vor den Geistern zurückblieb, sondern in allen wurde der Kampfesmut Númenors entfacht, und sie stürmten auf die Feinde ein. Auch Beravor zog ihr Schwert, und seine Klinge war fahl, denn kein Sonnenlicht gab es, das sie spiegeln konnte. An der Spitze aber sah Beravor, dass Aragorn sein Schwert ebenfalls hielt, und sie wusste, dies war Andúril, die Flamme des Westens, die neu geschmiedet worden war, und von ihm schien ein Schein auszugehen wie von einer kleinen Sonne. Nun stürzten sich die Dúnedain in den Kampf, und ihre Feinde sahen sich eingekesselt zwischen den Schrecken der Toten aus dem Weißen Gebirge und den entsetzlichen Antlitzen der Dúnedain, die ihnen entgegenritten, und viele verließ der Mut und sie erhoben ihre Waffen nicht. Den Dúnedain aber war es gleich, und getrieben von Aragorns Willen wichen sie nicht vor den Gespenstern zurück, sondern sie ritten ihre Feinde an den Kais von Pelargir nieder. Und Beravor hieb mit ihrem Schwert nach den wenigen, die noch Widerstand zu leisten vermochten, und obwohl viele bereits dem Schrecken der Toten zum Opfer gefallen waren, so war ihre Klinge doch bald voll vom Blut der Feinde. Sie selbst aber fühlte sich unangreifbar, als sie hoch auf ihrem Ross saß, und neben ihr war Istavor, und auch ihre Klinge hatte schon ihr Ziel gefunden; und doch war aus ihrer beider Augen die Kampfeslust noch nicht gewichen. Da gelangten sie schließlich zu den Schiffen, und ein Großteil von ihnen war bereits in Brand gesetzt, doch auf den verbleibenden harrten die letzten Reste der Corsaren aus, und in ihrer Verzweiflung wurden sie nun von grimmiger Entschlossenheit gepackt. Da stieg Aragorn von seinem Pferd, und alle Dúnedain taten es ihm nach, und sie verteilten sich auf die noch unversehrten Schiffe. Beravor und Istavor blieben zusammen, und gemeinsam bestiegen sie eines der Schiffe, das im Hafen lag, und auf ihm sahen sie sich einem guten Dutzend Corsaren gegenüber, die entschlossen wirkten, und doch zeichnete sich auf ihrer Stirn die Angst ab. Im Augenwinkel sah Beravor an den Ruderbänken halbnackte Männer, die an die Ruder gekettet waren, und sie wusste, dies waren die Sklaven der Menschen aus Umbar, und ihr Zorn wurde größer. Ohne Rücksicht griffen sie und Istavor und noch zwei weitere der Dúnedain die Corsaren an, und ohne Mühe erschlugen sie alle, die an Bord waren und Waffen trugen, nur einer, den Beravor gerade mit einem Streicht ihres Schwertes töten wollte, sprang in seiner Verzweiflung von Bord in den kalten Fluss, und dort glaubte Beravor einen weißen Schatten zu sehen, der ihm sein bleiches Schwert in die Brust trieb. Dann war alles vorbei wie bei einem gewaltigen Sturm, der gerade übers Land gefegt war, und auf dem Schiff waren nur noch die vier Dúnedain und die vor Angst bleichen Ruderer, die sich wohl ebenfalls in die Fluten des Anduin gestürzt hätten, wenn sie nicht gefesselt gewesen wären.

Der Kampf war nur kurz gewesen, und dennoch schwitzte Beravor von der Anstrengung, und sie zog sich den Helm vom Kopf, als sie keine Gefahr mehr um sich sah. Da spürte sie den frischen Wind vom Meer in ihren Haaren, und sie blickte hinaus auf den Fluss und sah, dass nicht mehr gekämpft wurde; und dann blickte sie auf ihr Schwert, von dessen Klinge das Blut tropfte, das erste Menschenblut, das sie jemals vergossen hatte. Für einen Augenblick schauderte es sie, doch dann sah sie in Istavors Gesicht, und sie nickte ihr zu, und ein Lächeln war auf ihren Lippen; und dann sah sie auf einem anderen Schiff Halbarad, unversehrt und stolz, und für einen Moment war sie froh, denn die Flotte der Corsaren war in ihrer Hand, und auch wenn sie noch nach Minas Tirith gelangen mussten und dort eine noch gewaltigere Schlacht auf sie wartete, so hatten sie diese doch gewonnen, und Pelargir war durch sie befreit worden, und nicht länger befand es sich in den Klauen des Feindes.

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