29. Kapitel - Der Weg nach Minas Tirith

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Wie ein kleiner Vorgeschmack auf die Ewigkeit schien Beravor der Augenblick, da sie auf dem Deck des schwarzen Schiffes aus Umbar stand und in die Ferne blickte, denn die Zeit erschien wie stehengeblieben, und sie nahm nichts wahr als den leisen Wind, der vom Meer zu ihnen drang, wie ein einsamer Bote der Hoffnung im von Finsternis überwölbten Land, auf dem sie standen. Groß glaubte sie ihren Sieg an diesem Tag, und lange wurde er später besungen in den Liedern der Menschen, und gerade kümmerte es Beravor nicht, welche Schlachten und welcher Schrecken sie noch erwarteten in diesem Krieg, denn sie hatte zum ersten Male die Macht der Dúnedain im Kampfe gesehen und die Macht der Geister des Schwarzen Steines, die Isildurs Erben in den Kampf gefolgt waren. Die Kraft, mit der sie den Feind zurückgeschlagen hatten, gab ihrer Seele Freude und Hoffnung, und kaum konnte sie es sich jetzt vorstellen, dass das Schicksal sich noch einmal gegen sie wenden mochte in diesem Ringen von Dunkelheit und Licht.

Der silberne Schall von Trompeten riss Beravor aus ihren Gedanken, und ihr Blick wandte sich in die Richtung, aus der der klare Klang gekommen war. Und dort, nicht weit entfernt von dem Ort, wo Istavor und sie standen, da lag das größte aller Schiffe aus der Flotte der Corsaren am Ufer vertäut, ein gewaltiges Werk nimmermüder Hände, sein Rumpf war breit und weit gewölbt, und unzählige Ruder sprossen aus seinem Bauch wie hundert Glieder, und tief lag er im Wasser, und pechschwarz war seine Farbe. Doch nun war es nicht länger des Feindes, sondern Aragorn hatte es bestiegen, und in seiner Hand hielt er Andúril erhoben, das Schwert, das neu geschmiedet war, und von seiner Klinge blitzte das Licht, auch wenn es keine Sonnenstrahlen gab, die es hätte spiegeln können. Diese Flamme brennt auch noch, wenn kein anderes Licht mehr scheint, dachte Beravor, und sie sah, wie Andúril seinen Träger in das helle Licht der Hoffnung hüllte, und ein Schein lag über Aragorns Kopf wie eine goldene Krone, und er allein stand dort hell umstrahlt, während alle anderen in der Finsternis blieben. Neben ihm aber stand ein Zwerg, und Beravor glaubte, dass sein Name Gimli war, wenn ihre Erinnerung sie nicht trog, und Legolas war da, der Elb aus dem Düsterwald, und auch Elladan und Elrohir standen dort, silberbekränzt wie die edlen Prinzen der Noldor aus der Zeit des Krieges um die Juwelen Feanors. Doch Aragorn war es, der am meisten Ehrfurcht gebot, denn sein Blick war streng und bestimmt, und in seinen Zügen lag die Weisheit eines Königs aus edelster Abstammung. Und dann sah Beravor, wie sich das Schattenheer am Ufer vor dem Schiffe Aragorns versammelte, und in ihren Augen spiegelte sich das Rot des Feuers der Schiffe, die immer noch brannten, und jetzt meinte Beravor, einzelne Gestalten sehen zu können und Pferde und Banner und einen blassen Wald aus Speeren, der still aufragte, und es trat ein großes Schweigen ein, nur hinter sich hörte Beravor das Knacken von Holz, das vom Feuer verzehrt wird, und sie bemerkte, dass das leise Flüstern, das sie seit den Pfaden der Toten immer begleitet und an den Schrecken, der mit ihnen geritten war, erinnert hatte, nun verstummt war, und Beravor spürte, wie eine ungewisse Angst, die sie stets bei sich getragen hatte seit dem Tag, da sie den Dwimorberg betreten hatten, langsam zu weichen begann. Und dann ertönte Aragorns Stimme, und zum ersten Mal war dies nicht die Stimme eines Anführers, der zu seinen Freunden und Stammesgenossen sprach, sondern jetzt hörte Beravor die Stimme eines wahren Gebieters, der Macht hatte über die Lebenden wie die Vergangenen.
„Höret nun", rief er, „was Isildurs Erbe zu sagen hat. Euer Eid ist erfüllt. Geht zurück und sucht niemals wieder die Täler heim. Scheidet dahin und findet Ruhe."

Für einen Augenblick erschrak Beravor, denn sie hatte geglaubt, diese machtvollen Geister würden ihnen bis zum Ende des Krieges beistehen, hatten sie doch solche Stärke im Kampf gegen den Feind bewiesen, mochten sie auch den Verbündeten ebenso einen Schrecken einjagen. Doch sie erkannte, dass die Toten Aragorn nur gefolgt waren, um ihren Eid zu erfüllen, und ihm nicht länger folgen wollten, als Isildurs Fluch sie band. Darum nun trat einer aus den Reihen der Geister hervor, und er war groß, und sein Schatten schien für kurze Zeit fest zu werden und den Augen der Menschen gänzlich zugänglich, und er hielt einen großen Speer in seiner Hand wie das Szepter eines Königs. Und als er vorgetreten war und Aragorn angesehen hatte, da nahm er seinen Speer in beide Hände und zerbrach ihn über dem Knie, und als beide Hälften zu Boden gefallen waren, da verneigte er sich tief vor Aragorn, doch er sagte nichts, und dann wandte er sich ab, zurück zu seinem Heer; und plötzlich kam ein Wind auf, und das Heer der Geister wurde davongefegt, und ein letztes Mal konnte Beravor ihre Stimmen hören, doch sie flüsterten nicht mehr, sondern ein Seufzen stieg auf wie aus dem Winde selbst, und aus ihm sprach eine Erleichterung von einer Last, die viele tausend Jahre gewährt hatte. Dann waren die Toten fort und mit ihnen die Stimmen und der Wind.

Da schien es, als würde vor Beravors Augen ein gewaltiger Schleier gelüftet, und sie blinzelte wie eine, die gerade aus tiefem Schlaf und schrecklichem Träume erwacht ist, und für einen kurzen Augenblick war ihr Herz wie von allen Ängsten befreit, ihre Augen schienen die Welt in unzähligen Farben zu sehen und sie wollte jubeln und tanzen; denn das Schattenheer war fort, und mit ihm war der Schrecken gegangen, der es stets begleitet hatte, und Beravor, die ohnehin schon immer eine große Angst vor dem Tod in sich getragen hatte, glaubte sie nun tatsächlich vergangen, und es schien ihr nicht, dass sie diese Angst noch einmal würde erfahren müssen in ihrem Leben. Und auch, wenn dieser Zustand nicht lange anhielt und der Schrecken des Todes niemals von den Menschen genommen werden wird, so war ihre Verzweiflung, die ohnehin schon durch die Worte Rovaldils, Halbarads und ihrer Freundin Istavor gelindert worden war, nun dahin, und nie wieder sollte die Furcht vor der Zukunft so zurückkehren in ihr Herz, wie sie sie bisher auf dem Marsch begleitet hatte. So gingen die Toten von Erech dahin, und leichter wurde jedem Mann das Herz an diesem Tag, und die Felder von Lamedon und das Tal von Morthond litten nicht länger unter dem Schatten des Berges; und auch die Angst der Männer wurde genommen, die mit Angbor bei Linhir gekämpft hatten und sich nicht hervorgewagt hatten, als die Toten gekommen waren, und sie hatten sich schließlich entschlossen, Gondor beizustehen vor den Toren von Minas Tirith; und so sah Beravor nun, wie eine kleine Schar aus den Außenlehen angeritten kam unter der Führung von Angbor dem Furchtlosen, und er versprach Aragorn, soweit Beravors scharfes Gehör seine Worte wahrnehmen konnten, dass noch mehr kommen würden; und an jenem Tag wuchs die Hoffnung der Dúnedain, auch wenn der Krieg vor Minas Tirith immer noch wogte und die Verteidigung der Stadt schwankte und kaum noch standhalten konnte.

Es dauerte eine Weile, bis Beravor ihren Blick vom größten der Schiffe abwenden konnte, wo Aragorn stand und die Toten von ihrem Eide erlöst und Angbor begrüßt hatte, doch schließlich richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Ort, an dem sie stand, und sie bemerkte, dass die anderen beiden Dúnedain, die mit Istavor und ihr dieses Schiff bestiegen hatten, begonnen hatten, die Leichname der Gefallenen aus Umbar an Land zu zerren, denn ein großer Haufen wurde errichtet, auf dem die Toten verbrannt werden sollten; und auch Istavor nahm nun einen der großen Männer aus Umbar, der dennoch kleiner sein musste als sie, die sie aus dem großen Geschlecht der Menschen von Westernis stammte, und sie packte ihn bei den Armen und zog ihn über die Planke, über welche sie das Schiff bestiegen hatten, an Land, und im Gesicht aller, die so taten, sah Beravor die leise Bestürzung, denn dies waren keine Orks, verunstaltet von den verderbten Künsten der Dunklen Herrscher und ganz und gar frei von Liebe und Schönheit, sondern Menschen wie sie selbst, aus anderem Stamme zwar, doch verwandt, und ganz anders fühlte es sich an, einen von ihnen zu erschlagen, als die eigene Brut der Dunkelheit. Dies war auch der Grund, auch wenn es sie sehr schmerzte, dass Beravor ebenfalls einen Leichnam packte und rückwärts die Planke hinunterschleifte: Denn sie wusste, dass diese Menschen, wenn sie auch Feinde waren und dem Bösen gedient hatten, dennoch Menschen blieben und nicht einfach zur Beute für die Hunde und all die Raubvögel gemacht werden durften, welche Taten sie auch immer getan hatten in ihren Leben; sondern sie sollten verbrannt werden und ihre Seelen in Frieden den Kreisen der Welt entweichen dürfen, wie es auch Beravors Seele einst tun würde.

Beinahe wunderte Beravor sich, dass die Gedanken an den Tod und die Vergänglichkeit sie nicht erneut überfielen, als sie ins Gesicht des Toten sah, doch der Bann der Schatten war von ihr genommen worden. Es war einer derer, die sie selbst erschlagen hatte, und in seinem Gesicht war noch der Schrecken zu sehen, den die Geister ihm gebracht hatten und dessenthalben er ihrer Klinge so schnell zum Opfer gefallen war, und Beravor wusste, dass dieser Mann in großer Angst und Verzweiflung gestorben war. Dennoch ließ sie dieses Schicksal merkwürdig unberührt, und fast ein wenig gleichgültig legte sie seinen blutigen Körper zu dem Haufen der anderen toten Krieger. Dies ist also der Krieg, dachte sie, der in uns allen die schlimmste Seite zum Vorschein bringt, die der Gleichgültigkeit gegenüber dem Grausamen, die der Liebe zum Töten und die des Hungers nach dem Blut von Gleichen. Das dachte sie in ihrem Gemüt, doch wieder überkam sie keine Furcht; nur die Hoffnung regte sich in ihr, dass sie nicht so würde sterben müssen.

Als sie zum Schiff zurückkehrte, bemerkte sie, dass andere ihnen anscheinend behilflich gewesen waren, denn alle Leichen waren fortgebracht worden. Auch wenn Beravor nicht wusste, wer es gewesen war, so war sie dennoch im Innern dankbar dafür, dass man ihr diese Arbeit abgenommen hatte, und so hatte sie auch einen kurzen Augenblick der Rast, und sie besah dieses Werk meisterhafter Hände, auf dem sie stand, denn es war wahrlich ein Anblick, den sie noch nie in ihrem Leben gehabt hatte: Die Schiffe waren gewaltig, und Beravor, die nie mehr als einen winzigen Kahn auf einem See gesehen hatte oder ein Floß auf einem kleinen Fluss, schien es, als ragten die Masten bis in die Wolken hoch, und die schwarzen Segel, die sie trugen, schienen wie Teppiche, die aus Dunkelheit und Nacht gewirkt waren. Überall waren Taue gespannt wie die Netze einer gewaltigen Spinne, und an Deck standen noch viele Geschütze und Waffenständer, beladen mit Hellebarden und Speeren und vielerlei andere Ausrüstung, und alles Holz war schwarz angestrichen, und Verzierungen waren dort angebracht von dämonischen Gesichtern mit rot flammenden Augen, die Münder zu grässlichen Fratzen verzogen. Und als Beravor ihren Blick über das Deck schweifen ließ, da wurde sie wieder der Sklaven gewahr, die ein wenig tiefer an den Ruderbänken saßen, mit schweren Ketten gebunden an die langen hölzernen Ruder, und großes Mitleid überkam sie: Denn in den Augen dieser Männer sah sie, dass sie einst tapfere Krieger gewesen waren, und sie vermutete, dass sie einst im Kampfe für Gondor in die Hände der Diener des Feindes geraten waren, und ihr Schicksal berührte Beravors Herz; doch nun war in ihr Angesicht ein neues Gefühl getreten, und einige ahnten bereits, dass die Tage ihrer Knechtschaft ein Ende haben könnten, doch keiner von ihnen rührte sich, denn noch wussten sie nicht, woran sie waren, und der Schrecken, den die Geister auch ihren Gemütern eingejagt hatten, war noch nicht von ihnen abgefallen. Da entschloss Beravor sich, ihnen Mut zuzusprechen, und sie stieg hinunter zu den Sklaven der Corsaren und trat vor sie; und alle, die ihre Stimme erreichen konnte, hörten ihre Worte und verbreiteten sie weiter unter denen, die sie nicht hatten vernehmen können. Stark und furchtlos war Beravors Stimme, und Mut wurde entflammt in den Herzen derer, die sie hörten, und es war das erste Mal, dass Beravor selbst Worte der Ermutigung und Aufmunterung sprach und gegen die Finsternis des Feindes redete, anstatt diejenige zu sein, die diese Rede hörte, weil ihr der Mut gesunken war.

„Seht!", sagte sie, „Die Finsternis vergeht: Denn Isildurs Erbe ist gekommen zur Rettung von Gondor, und der Feind in Pelargir wurde gestürzt. Eure Fesseln sollen euch abgenommen werden, und ihr sollt frei sein von nun an bis in alle Ewigkeit, und zurückkehren sollt ihr in eure Heimstätten und zu euren Familien. Denn die Dunkelheit muss weichen vor der Flamme des Westens, die immer heller zu brennen beginnt. Der Krieg ist nun am Wendepunkt angelangt und die Hoffnung der Freien Völker ist neu entflammt worden. Darum lasst eure Furcht fahren vor den bösen Menschen, die euch geknechtet haben, und auch die Furcht vor den Gespens-tern, die mit uns gekommen sind und den Tod gebracht haben: Denn auch sie sind nun fort, und der Tag wird wieder hell; und der Sieg der Menschen mag nun tatsächlich kommen. Ihr aber seid von dieser Stunde an wieder frei, und ihr mögt gehen, wo-hin ihr wollt. Doch wenn ihr eurem Land und eurem Herrn noch helfen wollt und euren Teil in diesem Krieg tun wollt, so bitte ich euch, noch ein letztes Mal die schweren Ruder zu bewegen und die Schiffe des Feindes, die jetzt unser sind, anzutreiben. Denn der Weg nach Minas Tirith, wo zur Stunde der Krieg schwer wogt, ist noch lang, und alle Zeit, die wir uns erkaufen können durch Schnelligkeit auf dem Fluss, ist wertvoll. Und vielleicht werdet ihr dann sagen können, dass ihr es wart, die ihr die Streitmacht, die die Schlacht entschieden hat, rechtzeitig zum Turm der Wacht gebracht habt, und Euer Lohn wird groß sein, gegeben vom Herrn von Gondor."

So sprach Beravor, und große Verwunderung war unter den Menschen, die ihr zugehört hatten: Denn während sie gesprochen hatte, hatten ihre Augen vom Lebensfeuer der Dúnedain zu brennen geschienen, und in ihrer Stimme hatte eine Macht gelegen, die jenseits von der Kraft bloßer Worte gewesen war; viele Männer aber staunten, denn sie sahen in Beravors Gesicht, und das war eindeutig das einer Frau, und die Stimme war die einer stolzen Herrin gewesen, doch war sie zum Kampf gerüstet wie ein Mann, gegürtet mit einem langen Schwert, und sie hatte einen Bogen geschultert und trug einen Köcher auf dem Rücken, und in ihrer Hand hielt sie einen eisernen Helm, und groß war sie in ihren Augen, größer als viele Krieger, die sie in ihrem Leben gesehen hatten. Doch keinen Abbruch tat all dies der Wirkung von Beravors Rede, und die Männer streiften alle Furcht ab, und neue Hoffnung brannte in ihren Herzen. Einige jubelten laut und priesen die glückliche Stunde, andere aber weinten im stillen Glück Tränen süßer Freude; viele aber sangen Lieder und sprangen auf, und beinahe schien es, als hätten sie genug Kraft, ihre Ketten selbst zu sprengen, und sie versprachen, alle Freunde Gondors, die auf die Schiffe kommen wollten, bis nach Minas Tirith zu fahren und weiter darüber hinaus. Beravor indes lächelte und freute sich in ihrem Herzen, dass ihre Worte diesen vom Schicksal geplagten Menschen so viel Freude hatten schenken können. Dann aber wandte sie sich von ihnen ab, denn sie konnte nicht vergessen, dass diese freien Männer immer noch in Ketten lagen, und sie entschloss sich, entweder einen Schlüssel zu finden, der die Fesseln öffnen konnte, oder, wenn es sein musste, einen Schmied.

Als Beravor wieder von Bord ging, sah sie, dass man sich bereits daran machte, den Scheiterhaufen der gefallenen Feinde zu entzünden, und es war eine große Menge von Leichen, die dort lagen, aufgeschichtet wie schwarzes Holz, als habe man einen Turm bauen wollen aus den Körpern der Gefallenen als ein grausiges Opfer für den ewigen Hunger des Krieges. Doch Beravor wurde bewusst, dass dies nur ein verschwindend geringer Teil der Streitmacht war, die der Dunkle Herrscher aufgeboten hatte zum Krieg gegen die Freien Völker, und sie fragte sich, wie gewaltig die Leichenhaufen sein mochten, die sich nach der Schlacht vor Minas Tirith auftürmen würden, und ob auf ihnen Orks liegen würden oder Soldaten aus Gondor. Für eine Weile blieb sie stehen und sah zu, wie die ersten Flammen an den Körpern der Toten leckten, und bald brannte das Feuer hoch und hell, und seine Hitze war weithin spürbar, und der Rauch stieg viele Meilen in den Himmel, wo er sich schließlich mit den Wolken, die der Feind geschickt hatte, vereinigte. Dann aber wandte Beravor sich ab, denn sie konnte den Anblick der brennenden Leichen nicht länger ertragen, und ging weiter den Hafen entlang. Sie sah nun, dass schon Vorbereitungen für ihre Abfahrt getroffen wurden, und alle Brände auf den Schiffen, die der Feind angezündet hatte, damit sie nicht den Dúnedain in die Hände fielen, waren gelöscht worden, wenn auch einige der großen Schiffe gänzlich zugrunde gegangen waren, bevor man sie hatte erreichen können. Und dennoch waren von den größeren noch immer mindestens dreißig fahrtüchtig, soweit Beravor dies ermessen konnte; denn sie verstand naturgemäß wenig von der Seefahrt, auch wenn sie gerne den Geschichten Halbarads gelauscht hatte, wenn dieser von den großen Seekönigen von einst erzählt hatte, die von Númenor aus Mittelerde besiedelt hatten und große Seefahrer gewesen waren, deren strahlende Schiffe sich sogar mit denen der Elben messen konnten, die die Teleri in den Landen der Götter und Círdan der Schiffbauer an den Grauen Anfurten erbauten. Doch waren all diese Schiffe schön gewesen, prächtig und hell, mit weißen Segeln und der strahlenden Gischt vor ihrem Bug; die Schiffe der Corsaren aber waren schwarz wie die Nacht, denn sie waren nicht gebaut, um Ehrfurcht in den Herzen zu erregen, sondern Schrecken, und scheußliche Maschinen standen auf ihren Decks, wie sie sich nur der dunkle Sinn des Feindes erdenken konnte. Und doch, so dachte Beravor bei sich, werden sie nun zum Werkzeug des Guten; und dabei lachte sie innerlich.

Beravor suchte eine geraume Zeit nach jemandem, der den Gefangenen auf den Schiffen helfen konnte, doch sie fand niemanden, der etwas von Schlüsseln wusste, und einige sagten, es gebe keine, denn es sei der Wille der Corsaren, dass diese armen Menschen ihre Ruderbank nie verlassen würden; doch Beravor gab nicht auf, und bald schloss sich ihrer Suche ein anderer Waldläufer an, dem die Sklaven Umbars ebenfalls jammerten, und gemeinsam suchten sie im ganzen Hafen, doch niemand hatte einen Schlüssel gesehen, und es hieß, wenn es einen gegeben habe, so habe ihn einer der Feinde bei sich getragen, und diese waren nun entweder geflohen oder in den Fluss gesprungen und darin vergangen oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Und auch wenn Beravor nicht aufgab, so schwand doch die Hoffnung, etwas für diese armen Menschen tun zu können, die befreit worden waren und doch immer noch gefangen waren, und Stunde um Stunde verging, bis die Sonne hinter dem Brodem Mordors im Westen versank. Doch just in dem Augenblick, da das Licht schwand und Beravor die Suche aufgeben wollte, da traf ihr Gefährte auf einen Mann, der eben erst in Pelargir eingetroffen war, ein Krieger aus den Außenlehen, der nun, da die Bedrohung durch die schwarze Flotte gebannt war, dem Ruf seines Herrn folgen wollte und in den Krieg vor Minas Tirith ziehen; und er sagte, dass er ein Schmied sei und ihnen gerne behilflich sein würde, und sie geleiteten ihn auf das Schiff, das am nächsten festgemacht hatte, und er besah die Ketten, mit denen die Gefangenen gefesselt waren, und dann lachte er: „Eines Schmiedes bedarf es hier kaum, sei es denn, dass man einen Fachmann braucht, um die Art dieser Ketten zu beurteilen: Schlampig gearbeitet sind sie, und nicht mehr als einen Axthieb wird es brauchen, um sie zu sprengen." Und dann nahm er aus einem beistehenden Waffenständer ein große Streitaxt, mit schwarzem Schaft und breiter Klinge, und er holte weit aus und schlug genau an die Stelle, da die Kette mit dem Ruder verbunden war, und sogleich sprang sie entzwei. „Das ist alles, was wir jetzt tun können, sagte er, „denn für alles andere braucht es eine Schmiede und ein wenig Geschick, wenn sich diese tapferen Männer nicht verletzen sollen. Einstweilen aber wird dies als Zeichen der Freiheit genügen."

Viele Äxte gab es auf den Schiffen, und die Befreiten waren trotz ihrer langen Knechtschaft noch immer geschickt im Umgang mit Waffen, und so dauerte es nicht lange, bis alle ehemaligen Sklaven aus ihren Banden erlöst waren, denn je mehr frei wurden, desto schneller ging es bei den anderen voran, und es war noch nicht einmal das letzte Tageslicht vergangen, als alle ehemaligen Gefangenen auf freiem Fuße waren. Doch gingen sie nicht fort und flohen nicht, sondern sie blieben und sicherten Gondor, ihrer lange verlorenen Heimat, ihre Hilfe zu, und sogleich machten sie sich überall nützlich, wo sie gebraucht wurden. Und so ging der Tag dahin und die Nacht brach an, und noch immer trafen dann und wann weitere Truppen aus den Außenlehen ein, Schwertkämpfer aus Ethir und Jäger aus Lamedon, mit langen Bogen gerüstet. Den Dúnedain aber gebot Aragorn, sich auszuruhen, während viele andere arbeiteten, denn sie waren es, die die Schlacht geschlagen hatten und davor viele Tage mit den Toten geritten waren. Nur allzu gerne kam Beravor dieser Aufforderung nach, und die Dúnedain, deren Schar zahlenmäßig weit kleiner war als die der anderen Verbündeten Gondors, wenn auch weitaus mächtiger als die meisten von ihnen, verteilten sich auf die drei größten Schiffe, die von der Flotte noch übrig geblieben waren, und mit ihnen kamen auch ihre Pferde, die sie nicht zurücklassen konnten. Gerade als Beravor über die Planke eines der drei Schiffe an Bord gehen wollte, bemerkte sie Istavor in der Menge der Menschen, die sich nun an den Kais tummelten. Sie hatte sie schon seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen an diesem Tag, nur ein- oder zweimal hatte sie sie auf der Suche nach jemandem, der die Ketten der Gefangenen öffnen konnte, irgendeiner Tätigkeit nachgehen sehen. Nun versuchte sie, ihr durch Winken ein Zeichen zu geben, aber es brauchte eine Zeit, bis Istavor sie entdeckt hatte. Dann aber kam sie auf sie zu und bestieg hinter ihr das Schiff. Ein Lächeln war in ihrem Gesicht, und sie hielt einen großen Beutel in der Hand.
„Du hast dich, wie ich gehört habe, als Schlossknackerin versucht", sagte sie halb spöttisch, „aber es scheint, man musste sich doch mit Gewalt begnügen, um die Männer Gondors von der Knute Umbars zu befreien."
„Der Ruf meiner Taten scheint mir in Pelargir vorauszueilen", gab Beravor zurück, „und doch kann ich so wenigstens behaupten, auch nach der heutigen Schlacht noch meinen Teil getan zu haben an diesem Tag. Du hingegen scheinst dich nur als Beutelschneiderin betätigt zu haben." Bei diesen Worten blickte sie auf den großen ledernen Sack, den Istavor in ihren Händen hielt.
„Nun", sagte Istavor, „gezahlt habe ich für dieses Stück und seinen Inhalt tatsächlich nichts, aber auch gestohlen habe ich es nicht." Und als sie das gesagt hatte, da legte sie den Beutel auf den Boden und öffnete ihn, und da war Beravor kurz davor, ein Loblied auf ihre Freundin anzustimmen, denn in der Zeit, in der sie sich um die Gefangenen gekümmert hatte, hatte Istavor sich um sie gekümmert: Der Beutel war gefüllt mit allerlei Speisen, Fleisch und Obst und Brot, und es war nicht nur genug für ein Abendessen, sondern es reichte auch aus, um ihre eigenen Vorräte aufzufüllen.
„Ich danke dir", sagte Beravor, auch wenn diese Worte ihre wahre Dankbarkeit nicht recht auszudrücken vermochten.
„Gern geschehen", antwortete Istavor, „auch wenn du dich eher bei den Männern Angbors bedanken solltest. Als ich nämlich gerade in Pelargir auf der Suche nach etwas zu Essen für uns war, da sagten sie mir, Pelargir sei geplündert, und die Corsaren hatten das meiste ihrer Vorräte in den Fluss geworfen, damit es nicht in unsere Hände fiel, die Herren aus den Außenlehen aber gaben mir von ihrem eigenen Proviant, und es ist mehr als genug, denke ich, bis wir nach Minas Tirith kommen. Genug sogar, scheint es mir, um unseren lieben Rovaldil mit zu versorgen, der aus Zufall sein Lager schon wieder bei uns gesucht hat." Da drehte sich Beravor um und sah, dass Rovaldil erneut in ihrer Nähe saß, und es war ihm sichtlich unangenehm, dass er von Istavor entdeckt worden war. Beravor aber bedeutete ihm, sich zu ihnen zu setzen.
„Kommt, Rovaldil", sagte sie, „Istavor hat nämlich recht: Es gibt mehr als genug auch für uns drei, und gerne teilen wir, was wir haben."
So setzte sich Rovaldil zu ihnen, doch er schwieg, als sie aßen.
„Nun sprecht!", sagte Istavor daraufhin nach einiger Zeit. „Sicherlich wird es einen Grund geben, weshalb Ihr stets unsere Gesellschaft sucht."
„Den gibt es wahrhaftig", antwortete Rovaldil, „und er ist einfach: Jahrelang streifte ich einsam durch die Wälder von Eriador, und nun befinde ich mich seit einiger Zeit in der Gesellschaft meiner Stammesgenossen. Doch sind sie alle älter und weiser, und wenn etwas noch grimmiger ist als ihre Gesichter, so sind es ihre Gemüter. Eine Zeit lang bin ich daher in der Nähe Merendús geblieben, der in meinem Alter zu sein schien, doch der ist jetzt nicht mehr bei uns. Ihr beide seid die einzigen, die verblieben sind, denen ich mein Herz zu verstehen zutraue."
„Ich verstehe Euch gut", sagte Beravor, und dann aßen sie eine Weile schweigend weiter, während um sie herum der Schein von Fackeln die Finsternis ein wenig erhellte. Im Lichte dieser Flammen sah Beravor das Gesicht Rovaldils, und seine Worte, die ehrlich gewesen waren und doch nicht alles gesagt hatten, was er fühlte, hatten ihr Herz dem seinen zugewandt, und in seinem Gesicht las sie die vielen Gefahren, die er bereits überstanden hatte, und dennoch war seine Jugendlichkeit darin immer noch zu erkennen, und aus seinen grauen Augen sprach eine andere Sprache als aus denen der älteren Dúnedain, wenn auch kein geringerer Mut; und Beravor fragte sich, ob all dies in ihrem Angesicht auch zu erkennen war, denn sie fühlte genauso. Istavor andererseits sah nicht in das Antlitz Rovaldils, sondern in das ihrer Freundin, und sie vermochte die Gedanken dahinter zu erraten, und ein wenig auch die in Rovaldils Kopf; aber sie lächelte nur und sagte nichts, und dann wünschte sie ihren beiden Gefährten eine gute Nacht und legte sich zum Schlafen, und Rovaldil und Beravor taten es ihr bald gleich, und sie wechselten keine Worte mehr an diesem Abend.

Rufe und das Knarzen von Planken rissen Beravor aus ihrem Schlaf. Es war noch früh am Morgen, aber überall herrschte bereits eifrige Betriebsamkeit, und als Beravor sich erhob und sich umsah, sah sie, dass viele Schiffe bereits zum Auslaufen bereit gemacht worden waren, und alle Schiffe, die die Feuersbrunst des gestrigen Tages überstanden hatten, waren jetzt mit Männern Gondors bemannt. Auch auf dem Schiff, wo sie und Istavor lagerten, waren jetzt neben den Ruderern weitere Männer, Seekundige, wie es schien, denn sie sprachen eifrig miteinander und deuteten hin und wieder in den Himmel und auf die Ruderer oder prüften die Taue. Am Hafen hingegen war niemand mehr, und auch der Scheiterhaufen der Feinde schwelte nurmehr vor sich hin, und alles war verladen und bereit zum Aufbruch. Und kaum, dass sich Istavor vom Schlaf erhoben, sich neben Beravor gestellt und den Morgen begrüßt hatte, da erschollen vom vordersten Schiff erneut die silbernen Trompeten, die Aragorn wohl dem Feinde abgenommen hatte, und Befehle wurden gerufen und die Vertäuungen der Schiffe gelöst, und die Ruder setzten sich in Bewegung wie die Beine vieler Hundertfüßer, und die Schiffe liefen aus. Eines nach dem anderen glitten sie aus dem Hafen und hinaus auf den großen Strom Anduin; und während all dies geschah, brachte Beravor kein Wort heraus, so anmutig erschienen ihr die Bewegungen der Schiffe und so neuartig war diese Erfahrung, und sie blickte hinaus auf den breiten Fluss, der scheinbar träge dahinfloss, in Wahrheit aber war seine Strömung für die Ruderer nicht zu unterschätzen, und sie mussten sich anstrengen, um die Schiffe mit ausreichender Geschwindigkeit flussaufwärts zu bewegen. Beravor selbst konnte nichts tun, um ihnen zu helfen, auch wenn sie sich wünschte, es zu können, und so war sie gezwungen, an der Reling zu stehen und auf den Fluss zu sehen und die Lande, die träge an ihnen vorbeizogen, und immer wieder fragte sie sich, ob sie zu Pferd nicht schneller gewesen wären oder ob sie in ihrer Wahrnehmung der Geschwindigkeit der Schiffe getäuscht wurde.

Nach einiger Zeit wandte Beravor sich ab und setzte sich wieder zu Istavor und Rovaldil, doch diese waren nun nicht mehr allein, sondern ein Mann hatte sich zu ihnen gesellt, und es war kein Dúnadan. Als Beravor Istavor nach dem Mann fragte, antwortete diese: „Dies ist ein Seekundiger aus Ethir, der den Befehl über dieses Schiff übertragen bekommen hat. Da im Augenblick aber die Schiffe auch ohne seinen Befehl recht gut zurechtzukommen scheinen, erklärt er uns gerade, wie sich die Lage für unsere Flotte verhält."
„Und wie verhält sie sich?", fragte Beravor.
„Um einiges besser könnte sie sein", antwortete der Mann. „Keine Hilfe erfahren wir vom Wind, wie es eigentlich üblich ist zu dieser Zeit, und die Strömung ist gegen uns. So tapfer sich die Männer an den Rudern auch abmühen, der Herr hat gesagt, wir müssen morgen nach Harlond kommen, und bei unserer jetzigen Geschwindigkeit besteht darauf wenig Hoffnung." Dann schüttelte er den Kopf und redete mit sich selbst, und dann ging er fort.
„Wenig Hoffnung", wiederholte Beravor die Worte des Mannes, und aus ihrem Mund klangen sie noch niedergeschlagener.
„Wenig vielleicht, aber verloren ist die Hoffnung noch nicht", sagte Istavor, um ihre Freundin zu ermutigen. „Und auch mit wenig Hoffnung sind wir von Bruchtal aus aufgebrochen, und doch haben wir wider alle Erwartung Herrn Aragorn gefunden und sogar die Schrecken des Pfades der Toten überlebt. Darum lasse jetzt den Kopf nicht hängen, Beravor, nicht, ehe die Hoffnung ganz vergangen ist und die Dunkelheit gesiegt hat." Doch Beravors Herz vermochten Istavors Worte nicht aufzuheitern, und sie ging zurück an die Reling und sah hinab ins dunkle Wasser, und viel zu langsam zog die Landschaft links und rechts an ihnen vorbei; und immer noch dräute über ihnen die finstere Wolkendecke, die aus dem giftigen Atem Mordors gekommen war.

So ging der Vormittag des ersten Tages auf den Schiffen vorüber, und schweigend nahm Beravor mit ihren Gefährten ein karges Mittagsmahl ein, und keine Worte wechselten sie in dieser Zeit, denn noch langsamer schien allen das Vorankommen geworden zu sein, auch wenn die Männer an den Rudern schwitzten und sich abmühten. Beravor kehrte wieder an ihren Platz an der Reling zurück, wo sie schon fast den ganzen Tag über bisher gestanden hatte, doch diesmal bemerkte sie, dass jemand an ihre Seite trat, und sie sah sich um und erblickte Halbarad, der wohl ebenfalls auf diesem Schiff genächtigt hatte.
„Weshalb bist du nicht auf dem Schiff, wo auch Herr Aragorn und die Elbenbrüder sind?", fragte Beravor. „Gewiss gibt es wichtige Dinge zu besprechen, die auch deines Rates bedürfen."
„Kaum", antwortete Halbarad, „denn das meiste war schon geklärt, während du noch unterwegs warst, um die Gefangenen des Feindes zu befreien – eine edle Tat, die du da getan hast für sie – und kaum noch bedarf es dort auf dem vordersten Schiff meiner Ratschläge, denn nun ziehen wir in die Schlacht, und was jetzt kommen mag, liegt nicht mehr in unserer Hand."
„Werden wir denn rechtzeitig zur Schlacht kommen?", fragte Beravor in Erinnerung an die Worte des Seekundigen aus Ethir.
„Keiner vermag das zu sagen", antwortete Halbarad, „doch mein Herz lässt mich glauben, dass es nicht unser Schicksal sein wird, zu spät zu diesem Kampf zu kommen, in dem wir eine große Rolle spielen sollen, wenn es stimmt, was Aragorn sagt."
„Heißt das, dass wir das Blatt dieses Krieges wirklich wenden können in dieser Schlacht?"
„Das können wir, Beravor, und das werden wir. Und darum bin ich auch auf dieses Schiff gestiegen gestern, das auch du gewählt hast: um dir noch einmal Mut zuzusprechen vor dem Kampf, damit du alle deine Kräfte darauf verwenden kannst, das Blatt des Krieges zu wenden, wie du sagst, und nicht an Gedanken über den Tod verschwendest, der für uns Menschen unvermeidlich ist."
„Nicht mehr der Tod bereitet mir Sorgen", sagte Beravor, „denn sein Schrecken ist mit den Geistern von Erech vom Winde davongetragen worden. Doch andere Fragen plagen mich jetzt, auf die ich keine Antwort weiß."
„Welche Fragen?"
„Ich muss jetzt, da ich daran glauben kann, dass dieser Krieg tatsächlich zum Guten gewendet werden kann, immerfort an die Zeit danach denken, wenn wieder Friede herrscht und der Feind endgültig besiegt ist: Denn ich weiß nicht, wo dann noch ein Platz für Waldläufer sein soll."
„So weit in die Zukunft vermag ich nicht zu sehen", sagte Halbarad, „doch weiß ich, worauf deine Frage hinausläuft: Wenn der Krieg gewonnen werden sollte, so wird es keine Waldläufer mehr geben, und die Dúnedain werden sesshaft werden."
„Das befürchte ich", sagte Beravor, „und ich fürchte, was das mit sich bringt, denn ich habe das Leben als Waldläuferin geliebt und liebe jetzt das Leben als Kriegerin des Königs. Doch keines von beidem werde ich sein können, wenn der Krieg vorbei ist."
„Du fürchtest die Pflichten, die dann auf dich zukommen", sagte Halbarad.
„Das tue ich", antwortete Beravor, „denn du hast nie versäumt, mir zu sagen, welche das sind: Die Zahl der Dúnedain unseres noch unverminderten Geschlechtes sinkt immer weiter, und darum, sagtest du, sei es meine Pflicht, wenn ich dem Jugendalter und der Zeit der Abenteuer entwachsen sei, einen Mann zu nehmen aus den Reihen der Dúnedain und Kinder zu gebären; und damit hätte meine Freiheit für immer ihr Ende."
Als sie so sprach, blickte Halbarad sie ernst an, und als er wieder sprach, war seine Stimme zwar bestimmt, aber dennoch bekümmert. „Ich wollte dich nie zu etwas zwingen, Beravor", sagte er. „Und doch gibt es Dinge in unserem Leben, von denen es besser ist, dass wir sie uns nicht aussuchen können. Ohne Frauen gibt es keine Nachkommen der Menschen oder Elben oder Zwerge in den Grenzen der Welt, und du bist als Frau geboren. Betrachtest du dich nur für dich selbst, so mag es dir als ein Unglück vorkommen, dass dadurch dein Pfad in mancher Hinsicht vorgezeichnet ist, doch du musst auch auf den Stamm sehen, der dich braucht, um zu überleben. Und lass dir noch eines sagen: Nur weil du in deinem bisherigen Leben glücklich warst, muss das nicht bedeuten, dass du nicht auch auf andere Weise glücklich werden kannst, wenn der Krieg vorbei ist. Nun lass aber erst einmal ab von diesen Gedanken, denn noch sind die Tage deiner Jugend nicht vorbei, und noch bist du eine Kriegerin der Dúnedain. Richte deinen Blick auf das, was uns bevorsteht, nicht auf eine ferne Zukunft ohne Gewissheit. Schöpfe noch einmal Mut für die Schlacht."
„Wirst du bei mir bleiben im Kampfe?", fragte Beravor, die sich auf einmal ganz klein vorkam neben dem großen Krieger, den sie ihren Vater nannte, und von dem sie sich Schutz erhoffte.
„Ich kann nichts versprechen, denn in großen Schlachten geschehen viele Dinge unvorhergesehen. Du aber sorge dich nicht um deine Sicherheit, denn dein Schwert ist der beste Gewährsmann dafür, und mein Herz sagt mir, dass du nicht vor Minas Tirith dein Ende finden wirst. Vieles mag im Dunkeln liegen, aber die Lebensflamme deines Herzens brennt unvermindert hell, heller als die der meisten um uns."
„Ich danke dir für deine Worte und deinen Zuspruch", sagte Beravor ein wenig erleichtert, und der Mut kehrte in ihr Herz zurück, nun, da sie sich ihrem Vater hatte öffnen können, „denn mein Herz hat tatsächlich neuen Mut gefasst, und ohne Angst will ich morgen in die Schlacht ziehen – so es die Mächte geben mögen, dass wir morgen dort eintreffen."

Danach sprach Beravor nicht mehr mit Halbarad, und sie redete auch nur noch wenig mit Istavor oder Rovaldil, und langsam glitten die Schiffe voran, den Anduin hinauf. Und Abend wurde es, ohne dass das Wetter sich änderte, und als Beravor sich zur Ruhe legte, fürchtete sie erneut, sie würden zu spät kommen. Unruhig war ihr Schlaf, und sie träumte von brennenden Häusern und blutigen Kämpfen und Bergen von Leichen, doch wurde sie plötzlich jäh aus ihren Träumen gerissen: Noch dunkel war es, als sie so die Augen aufschlug, doch hörte sie das Schlagen von Tauen und das Klirren von Metall, und sie erhob sich und spürte plötzlich frischen Wind in ihren Haaren. Und siehe! Die Wolken aus Mordor wurden vom Himmel vertrieben, und zum ersten Mal seit vielen Tagen waren die Sterne wieder zu sehen, und der Mond schien wieder. Und in seinem Licht konnte Beravor erkennen, dass die Segel gesetzt worden waren und im Winde sich wölbten, und sie spürte, dass die Schiffe nun geschwind durchs Wasser glitten und niemand mehr ruderte. Und auch die anderen Dúnedain und die Menschen, die noch auf dem Schiff waren, konnten nicht mehr schlafen, sondern sie blickten in den Himmel und erfreuten sich des Wunders, das da geschehen war, und sie dankten den Göttern für diese Wendung des Schicksals und schöpften neuen Mut für die Schlacht. Noch einige Stunden dauerte es, bis der Tag anbrach, doch dann erhob sich die Sonne rot im Osten, und nicht länger war sie von Wolken verhangen, sondern klar und rein schien ihr Licht auf die schwarzen Segel im Wind. Und dann dauerte es nicht mehr lange, und in der Ferne sah man die Berge, mit weißen Spitzen im Licht der Sonne, und bald konnte Beravor einen weißen Fleck davor erkennen, und sie wusste, dies war Minas Tirith, die Stadt der Könige. Die Sonne aber erhob sich weiter, und ihr Rot verblasste; doch über Minas Tirith blieb der blutige Schein bestehen, als sie näher kamen. Da wurde Beravors Kampfesmut endgültig geweckt, und sie zog sich den Helm über und zog das Schwert, und Istavor tat es ihr nach und Rovaldil ebenfalls, und sie traten an ihre Seite und blickten zur Weißen Stadt.
„Minas Tirith steht in Flammen", sagte Rovaldil grimmig, „doch die Flamme des Westens brennt bei uns." Die schwarze Flotte aber glitt lautlos dahin, die letzten Meilen in den Krieg.

***

Ein weiteres Kapitel geht zu Ende, und die Entscheidung wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. In der Zwischenzeit bedanken wir uns fürs Lesen, und hoffen, ihr bleibt dran :D

Viele Grüße und bleibt gesund
Annaeru & Taudir

Der Weg der Grauen ScharWo Geschichten leben. Entdecke jetzt