Kapitel 1 - Notaufnahme

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Sophie band sich die Haare zu einem neuen Zopf und zupfte an ihrem Kittel herum. Sie war noch sehr jung für eine Ärztin und wurde (gerade von älteren Männern) sehr oft für eine Krankenschwester gehalten. Seitdem der Doktortitel auf ihren Kittel stand war es etwas besser geworden.

Sie seufzte leicht. Die Tage und vor allem die Nächte in der Notaufnahme waren immer besonders schlimm, aber das gehörte als Chirurgin ab und an dazu.

"Was haben wir?", fragte sie Marie, die Krankenschwester. Die reichte ihr eine Kladde.

"Schnittwunde.", meinte sie und Sophie nickte. In ihrem Kopf war sie bei Leon. Es war zwei Wochen her, dass er mit der Wunde am Kopf in ihrem Schlafzimmer gestanden hatte. Seitdem war er fast jede Nacht unterwegs gewesen und hatte meistens den halben Tag verschlafen. Sie machte sich Sorgen. Als er dann plötzlich gestern mit einem neuen Mercedes vor der Tür stand, hatte sie es kaum glauben können. Er hatte gekündigt, woher hatte er das ganze Geld? Und wer zu Hölle kaufte sich einen lilanen Benz mit so grässlichen Felgen? Wenn sie ihn heute sah, musste sie ihn danach fragen.

Sophie schüttelte den Gedanken von sich und öffnete die Tür zum Behandlungsraum. Sie stockte einen Moment als sie die beiden riesigen, tätowierten Männer sah. Sie trat ein, ließ die Tür aber offen. Man konnte ja nie wissen.

"Wann kommt denn der Arzt endlich? Wir sitzen hier schon eine halbe Ewigkeit.", der Mann auf dem Stuhl hatte überall Tattoos. Sogar am Hals, Kopf und an den Händen. Sophie hätte am liebsten die Augen verdreht. Ihr Blick wanderte zu dem Mann auf der Liege. Er saß aufrecht und hatte seinen Oberkörper gegen die Wand gelehnt. Seine eine Hand war notdürftig verbunden. Sie konnte ihn nicht wirklich erkennen, da er eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte.

"Ich bin die Ärztin.", Sophie lächelte freundlich. Sie hatte gelernt solche Kommentare zu überhören. Sie sah den erstaunen Blick auf dem Gesicht des Unverletzten. Er musterte sie kurz.

"Jo Johnny, heute ist scheinbar dein Glückstag.", grinste er schließlich. Johnny strich sich die Kapuze vom Gesicht und blickte sie an. Sie schluckte kurz. Er hatte wirklich schöne Augen.

Sophie ließ sich auf einen Hocker fallen und deutete ihm an, dass er seine Hand auf einen kleinen Tisch legen sollte. Er tat das kommentarlos, aber seine Augen lagen dabei auf ihren Gesicht. Sophie merkte, dass sie etwas nervös würde.

"Autsch. Wie ist das denn passiert?", fragte sie als sie die Schnittwunde inspizierte. Es sah schmerzhaft aus, aber zum Glück war nichts verletzt. Sie musste es nur nähen.

"Irgendein Spast aufm Kiez hat uns angegriffen.", es war der Unverletzte, der ihr antwortete. Konnte Johnny nicht reden? Stand er unter Schock? Er wirkte nicht so. Er machte sie eher nervös, so wie sein Blick unentwegt auf ihr lag.

"Also ist das eine Stichwunde?" fragte sie und blickte erneut auf die Wunde. Sah eigentlich nicht so aus.

"Nee, musste den nur abwehren, habe dabei ins Messer gegriffen.", Sophie war überrascht wie dunkel und tief seine Stimme war. Sie schaute ihn mit großen Augen an.

"Sie wirken recht entspannt. Passiert Ihnen sowas öfter?", fragte sie und zog eine Augenbrauen hoch. Sie rief nach Marie, damit sie ihr das Betäubungsmittel brachte.

"Kann vorkommen.", meinte er entspannt. Ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Sophie schüttelte leicht den Kopf... Was war denn mit den Männern los?

"Näh es einfach direkt. Brauch keine Betäubung.", meinte er und blickte ihr herausfordernd in die Augen. Sie seufzte. Es passierte immer wieder, dass Männer einen auf dicke Hose machen wollten. Sie kannte das mittlerweile.

"Nee, bestimmt nicht.", meinte sie und stand auf. Wenn Marie keine Zeit hatte, holte sie die Betäubung eben selbst. Sie verließ den Raum und spürte die Blicke auf ihrem Rücken.

20 Minuten später verband sie seine Hand. Er hatte die ganze Zeit jede Handbewegung von ihr beobachtete, aber kaum gesprochen. Sie störte das nicht. Sie konnte sich so eh besser konzentrieren.

"Bitte möglichst ruhig halten. Schmerztabletten gebe ich Ihnen mit. Zum Fädenziehen können Sie zu Ihrem Hausarzt gehen.", sie lächelte ihn freundlich an und stand auf. Er sprang ebenfalls von der Liege auf und berührte sie am Arm.

"Dachte eigentlich, ich komme wieder hier her zum Fäden ziehen.", meinte er entspannt. Sophie merkte sofort, dass er flirtete.

"Das können Sie natürlich auch. Machen Sie einfach einen Termin. Der Arzt, der dann Zeit hat, übernimmt das eben.", meinte sie und drehte sich um. Der Unverletzte lachte auf.

"Alles klar... Und ihr Name ist?", Johnny  ließ sich trotz der Abfuhr nicht außer Ruhe bringen. Sophie grinste. Dieses Selbstbewusstsein gefiel ihr.

"Neumann.", sie grinste ihn nochmal an, dann wollte sie den Raum verlassen.

"Wir sehen uns, Frau Doktor.", er lachte leise und Sophie drehte sich noch einmal zu ihm um. Er hatte eine Hand in die Tasche der Jogginghose gesteckt. Erst jetzt fielen Sophie die Locken auf. Sie nickte kurz und verließ den Raum. Aus irgendeinem Grund war sie sich sicher, dass sie sich sehen würden.

Sophie blieb direkt neben der Tür stehen und atmete tief durch.

"Wow, das tat ja beim zugucken weh, wie sie dich abblitzen lassen hat. Scheint so als wollte sie nicht deine sexy Krankenschwester spielen.", sie hörte den anderen lachen.

"Abwarten.", seine Stimme klang belustigt.

"So ein Outfit würde ihr bestimmt stehen."

Sophie biss sich auf die Unterlippe. Sie hatten sie ja nicht mehr alle. Trotzdem musste sie lachen, dann eilte sie den Flur entlang, bevor die beiden noch aus dem Behabdlungsraum kamen.

Kieztränen (Bonez MC)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt