Kapitel 34

52 6 4
                                    

Raphael tauchte neben Sualc auf, der vor Schreck einen Sprung zur Seite machte. „Raphael, verdammt!" Raphael zuckte mit den Schultern. „Die Glocke wolltest du ja nicht. Jade und Raven sind in Cosmo. Jade geht es gut. Raven ist verletzt. Ich konnte sie heilen, doch es wird einige Zeit dauern, bis sie sich erholt hat."
Jetzt erst bemerkte er die angespannten Gesichter seiner Freunde. Er folgte ihren Blicken. Sie alle schauten Ylva an. Raphael konnte ihre Blicke nicht genau deuten, aber er war sich sicher, dass dies nichts Gutes bedeuten konnte. Ylva konnte die Tränen kaum noch zurückhalten und hatte den Blick gesenkt. Langsam ging er auf sie zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Hey, was ist los?" Ylva sah auf und versuchte etwas zu sagen, doch stattdessen liefen nur weitere Tränen ihre Wangen herunter. Raphael zögerte kurz, doch dann wischte er ihr etwas unbeholfen die Tränen aus den Gesicht.
„Bring mich hier weg.", stieß Ylva leise hervor, „Bitte..."
Raphael nickte und legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Stirn. Er schloss die Augen und teleportierte sie nach Cosmo. Sie tauchten in Ylvas Zimmer wieder auf. Ylva konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und brach auf dem Boden zusammen. Stumm strömten Tränen über ihr Gesicht und tropften auf ihre Hände, die verzweifelt versuchten den Gefühlsausbruch zu stoppen. Raphael stand etwas unbeholfen da. Er wusste nicht so richtig, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Sollte er wieder verschwinden oder doch dableiben? Glücklicherweise nahm Ylva ihm diese Entscheidung ab. „Kannst du bitte wieder gehen?"
Raphael zögerte. „Bist du dir sicher?" Ylva nickte nur, den Blick immer noch gesenkt.
„In Ordnung. Ich komme später wieder. Ich will nur, dass..." Er stockte und versuchte die richtige Formulierung zu finden. „...,dass du weißt, dass alles gut wird und ich hinter dir stehe, egal was passiert ist.", beendete er den Satz und verschwand.

Als er wieder im Wald von Sorin auftauchte, stolperte er direkt in eine hitzige Diskussion, der er jedoch keine Beachtung schenkte und sie sofort unterbrach. „Was ist passiert?"
„Anscheinend hat Ylva Monara umgebracht, weil sie Evelyn umbringen wollte.", fasste Feya das Geschehende zusammen.
„Beziehungsprobleme auf ganz neuem Niveau.", murmelte Sualc und kassierte einen harten Schlag von Feya.
Raphael sah sie nur entgeistert an. „Und ihr behandelt sie als hätte sie euer ganzes Land angezündet?"
Evelyn starrte ihn mit glasigen Augen an. „Sie hat Monara umgebracht.", flüsterte sie. Raphael verschränkte die Arme. „Das war nicht Monara.", sagte er entschieden, „Und tief in deinem Inneren weißt du das auch."
Evelyn biss sich auf die Unterlippe. Sie konnte nicht abstreiten, dass Raphael Recht hatte.
„Wäre Ylva nicht gewesen, wärst du jetzt nicht hier. Sie hat dir das Leben gerettet und so dankst du es ihr? Du strafst sie mit Schweigen. Hast du nicht gesehen, wie es sie zerreißt? Sie macht sich schreckliche Vorwürfe, für das was sie getan hat. Anstatt sie runterzumachen, solltest du für sie da sein und ihr sagen, dass sie nichts falsch gemacht hat."
Betretenes Schweigen war die Reaktion auf Raphaels Predigt. Raphael schob sich zwischen Feya und Sualc hindurch und blieb vor Evelyn stehen. „Wo ist Monara?"
Evelyn senkte beschämt den Blick. „Ich führe Sie zu ihr.", sagte sie leise und setzte sich in Bewegung. Raphael drehte sich noch einmal um. „Ihr beide bleibt hier."
Feya und Sualc sahen sich kurz verwirrt an, taten dann jedoch was Raphael ihnen gesagt hatte.
Raphael und Evelyn schlugen sich schweigend einen Weg durch das Unterholz. „Was war mit ihr?", fragte Evelyn schließlich leise.
„Mit Monara?"
Raphael seufzte. „Es ist schwer zu erklären, weißt du?"
„Versuchen Sie es wenigstens."
„Alles was euch ausmacht befindet sich in eurer Seele. Was ihr fühlt, eure Persönlichkeit. Verschwindet das, seid ihr ein Wesen ohne jegliches Einfühlungsvermögen. Ihr tun das was man von euch verlangt, ohne beurteilen zu können, ob es richtig oder falsch ist."
In Evelyns Brust hatte sich ein riesiger Knoten aus Schuldgefühlen gebildet. „Das heißt, dass Ylva Monara gar nicht umgebracht hat..."
Raphael drehte ihr den Kopf zu. „Wusstest du da nicht schon?"

Evelyn schob einen Ast beiseite und holte tief Luft, als sie Monara noch immer im Gras liegen sah. Raphael verzog keine Miene, sondern ging geradewegs auf die Leiche zu.
Er bückte sich und legte eine Hand auf den leblosen Körper. „Nichts, was man nicht reparieren kann." Evelyn starrte ihn entgeistert an. „Bitte was?"
„Ich kann ihren Körper heilen, sodass ihre Seele wieder in ihn eintreten kann, wenn wir sie aus der Hölle befreit haben."
Evelyn atmete erleichtert auf. „Das ist eine gute Nachricht, oder?"
Raphael nickte. Evelyn trat von einem Fuß auf den anderen.
„Ich spüre, dass du mich noch etwas fragen willst."
Evelyn seufzte. „Wie viel Glauben kann man den Dingen schenken, die Leute ohne Seele zu einem sagen?", fragte sie leise und dachte daran, wie ihr Monara in die Augen gesehen und gesagt hatte, dass Evelyn nichts mehr für sie empfunden hatte. Immer mehr beschlich sie das Gefühl, dass Monara in diesem Punkt recht gehabt hatte.
„Was meinst du genau?"
Evelyn zögerte. „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das verstehen würden Raphael. Es geht um, nun ja, Gefühle."
„Ironischerweise können Menschen ohne Seele Gefühle anderer besser erkennen und beurteilen, weil sie von ihren eigenen nicht mehr beeinflusst werden. Menschen mit Seele fällt es meistens sehr sich schwer ihre eigenen Gefühle einzugestehen." Raphael sah zu Evelyn. „Du solltest dir darüber klar werden, was du für Ylva empfindest und ob du derartige Gefühle jemals für Monara hattest. Evelyn schaute Raphael verdutzt an. „Ich empfinde nichts für Ylva. Sie ist nur eine Freundin.", stritt sie ab und verschränkte die Arme. Raphael erhob sich stöhnend und stand nun dicht vor Evelyn. „Ich kann das nicht mit ansehen.", murmelte er und drückte ihr seinen Zeigefinger auf die Stirn.
Evelyns Augen drehten sich nach innen. Erinnerungen flammten vor ihrem inneren Auge auf. Sie sah Ylva auf dem Balkon stehen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie schön sie ausgesehen hatte. Sie erinnerte sich, wie Ylva ihr vergeben und sie getröstet hatte, nachdem sie sie so angefahren hatte. Sie erinnerte sich daran, wie geborgen sie sich in ihren Armen gefühlt hatte, wie es sich angefühlt hatte, als Ylva ihr durch die Haare gestrichen hatte. Das Bild verschwand und ein neues erschien. Ylva saß vor Evelyn, ihre Hand auf ihrer. Ein wohliges Gefühl durchströmte sie, als sie daran dachte wie Ylva sie angesehen und ihr Mut zugesprochen hatte. Sekunden später verschwand auch dieses Bild und ein neues erschien. Evelyn ging mit Monara den langen Gang zum Versammlungssaal. Was sollte das? Das hatte doch gar nichts mit Ylva zu tun. In diesem Moment sah sie ihre Freundinnen. Sie erkannte Ylva. Erst jetzt bemerkte sie ihren traurigen Blick. Wie hatte sie den damals übersehen können?
Immer mehr Erinnerungen flammten vor ihren Augen auf. Sie und Ylva in dem Versteck von Iris, Ylva, die sie auffing als sie ohnmächtig geworden war, Ylva, die sie auffing, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Ylva, die mehr als einmal zu ihr gekommen war, um sie zu trösten. Ylva, die ihr Wohl über ihr eigenes gestellt hatte. Schließlich flammte die letzte Erinnerung vor ihren Augen auf. Sie sah Ylva, die ihr vorsichtig die Haare schnitt. Auf ihrem Körper bildete sich Gänsehaut, als sie daran dachte, wie Ylvas Finger ihren Nacken gestreift hatten.
Ruckartig erloschen die Erinnerungen und Evelyn fand sich in der Realität wieder. Keuchend starrte sie Raphael an. Dieser lächelte nur. „Hast du es gesehen?"
Evelyn nickte zaghaft. In ihrem Bauch herrschte ein Chaos aus Gefühlen. Alles was sie je in Ylvas Gegenwart gefühlt hatte, schien sich zu einem großen verworrenen Ball verbunden zu haben. „Wie konnte ich das alles nicht vorher erkennen?"
„Gefühle sind eine verrückte Sache Evelyn. Sie verwirren uns. Manchmal braucht es seine Zeit herauszufinden, was man empfindet."
Evelyn hatte ihm gar nicht mehr wirklich zugehört. Ihre Gedanken waren bei Ylva und Raphael schien es zu bemerken. „Ich glaube, du musst da was in Ordnung bringen und etwas tun, was du schon lange hättest tun sollen.", sagte er und legte Evelyn eine Hand auf die Stirn.

Queens- When darkness fallsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt