Kapitel 38

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Ylva stolperte die letzten Stufen der langen Treppe herunter und sah sich hektisch um. Ihr Herz raste. In der Dunkelheit konnte sie eine Person sehen, die regungslos im Gras lag. „Evelyn!", schrie sie und rannte auf ihre Freundin zu. Sie ließ sich neben sie fallen und rüttelte Evelyn an den Schultern. „Evelyn! Evelyn bitte..." Ylvas Augen füllten sich mit Tränen und eine nach der anderen löste sich aus ihren Augenwinkeln und tropfte auf Evelyns reglosen Körper. Sanft strich sie ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Evelyn bitte, sag etwas.", schrie sie verzweifelt. „Du darfst nicht sterben! Hörst du mich? Ich bin hier und werde dich nicht verlassen! Bitte..."
„Ylva?" Langsam und gequält öffnete Evelyn ihre Augen und blinzelte einige Male langsam, als würde es ihr große Kraft kosten sie offen zu halten. Ylvas Herz schlug schneller. „Ja Evelyn, ich bin hier. Ich bin hier und ich werde nicht gehen." Zitternd hob sie Evelyns Kopf an und bettete ihn in ihren Schoß. Dabei fasste sie in etwas Feuchtes. Sie betrachtete ihre bebenden Finger. Dunkles Blut klebte an ihnen. Evelyn stieß rasselnd die Luft aus. „Haben wir gewonnen?"
Ylva presste ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. „Ja, das haben wir. Dank dir", flüsterte sie und fuhr Evelyn durch die Haare. Diese lächelte schwach. „Das ist gut.", hauchte sie und wurde kurz darauf von einem starken Hustenanfall geschüttelt. Kleine Blutstropfen quollen zwischen ihren Lippen hervor. Ylvas Atem ging stockend. „Du musst stark sein Evelyn! Du wirst wieder gesund."; schluchzte sie verzweifelt. „Das darf nicht das Ende sein. Das kann es einfach nicht sein. Hörst du mich? Ich werde dich hier nicht sterben lassen!" Weitere Tränen strömten ihr Gesicht herunter. Evelyn hob langsam einen Arm und fuhr mit der Hand schwach über Ylvas Wange. „Es ist schon in Ordnung Ylva. Es ist in Ordnung.", flüsterte sie. Ylva schüttelte den Kopf. „Ist es nicht! Du darfst mich nicht allein lassen. Ich brauche dich!" Evelyn ließ die Hand sinken. Langsam griff sie nach dem Armband, welches ihr ihre Schwester als Glücksbringer gegeben hatte und streifte es von ihrem Handgelenkt. Bedacht legte sie es in Ylvas Hand und schloss schwach ihre Finger darum. Diese schüttelte den Kopf. „Ich kann das nicht annehmen. Lou hat es dir geschenkt." Evelyn lächelte gequält und schloss Ylvas Finger noch etwas fester um das feine Silber. „Und jetzt möchte ich, dass du es bekommst. Ich liebe dich Ylva.", hauchte sie. Ihre Stimme klang schwach und kratzig. Ylva schluchzte auf. „Ich liebe dich auch.", sagte sie und gab Evelyn einen sanften Kuss auf die Wange. Vorsichtig streifte sie das Armband über.
„Versprich mir bitte, dass du nicht aufgibst. Du darfst schreien, du darfst trauern, aber niemals aufgeben. Versprich mir das bitte.", presste Evelyn mit letzter Kraft hervor. Vor Ylvas Augen hatte sich ein dichter Tränenschleier gebildet. Alles was sie konnte war nicken. Sie holte tief Luft. „Ich...ich werde es versuchen, versprochen.", flüsterte sie und griff nach Evelyns Hand. Sie fühlte sich kalt an. Ylva starrte auf Evelyns Brust, die langsam aufhörte sich zu heben und senken. „Das ist kein Abschied Evelyn! Du darfst nicht sterben! Verdammt! Es ist kein Abschied, es kann keiner sein..." Ylvas Stimme brach. Zitternd beobachtete sie wie sich eine letzte stumme Träne aus Evelyns Augenwinkel löste und ins Gras tropfte. „Evelyn...?"

Sie rüttelte an ihren Schultern, in der Hoffnung, dass Evelyn die Augen wieder aufschlagen würde, doch das geschah nicht. Die Welt schien über Ylva zusammenzubrechen. Zitternd hob sie eine Hand und fuhr langsam über Evelyns Augenlider, um sie zu schließen. Dann verließ sie auch der letzte Rest ihrer Kraft und sie brach schluchzend über Evelyns leblosen Körper zusammen. Hinter sich konnte sie die Rufe ihrer Freunde hören. Jemand ließ sich langsam neben sie fallen und legte stumm die Arme um sie. „Sie...ist...tot.", stieß Ylva hervor und fuhr Evelyn langsam über die Wange. Raven strich ihr beruhigend über den Rücken. Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Auch sie starrte einfach nur auf Evelyn, die leblos vor ihnen lag. Rasselnd holte sie Luft. Jetzt gab es kein Halten mehr und auch Raven begann hemmungslos zu weinen.
„Es muss doch etwas geben! Es muss etwas geben, was wir tun können!", schrie Ylva verzweifelt und riss sich von Raven los. Sie drehte sich um und entdeckte ihre Freunde, die sich in einem Halbkreis um sie herum aufgestellt hatten. Sualc hatte Feya in den Arm genommen und versuchte krampfhaft nicht die Kontrolle über seine Gefühle zu verlieren. Feya verbarg ihr Gesicht an seiner Brust und weinte leise. Jade war in dem feuchten Gras zusammengesunken und bebte am ganzen Körper. Verzweifelt schaute Ylva zu Raphael, der Schwierigkeiten hatte sich auf den Beinen zu halten. Sein Anzug war verdreckt und blutverschmiert und auf seiner Haut konnte sie dunkle Brandmahle erkennen. „Sie müssen etwas tun! Sie können ihr helfen. Raphael, Sie können sie zurückbringen..." Ylva fuhr sich verzweifelt durch die Haare. „Es muss doch eine Möglichkeit geben.", schluchzte sie und vergrub das Gesicht in den Händen. „Es gibt keine.", entgegnete Raphael leise, „Sie ist tot und ich kann sie nicht zurückbringen."
Ylva sprang auf und taumelte benommen auf Raphael zu. Sie zog einen kleinen Dolch aus ihrem Gürtel und drückte es dem Mann zitternd an die Kehle. „Sie sind ein bescheuerter Engel Raphael! Sie können das. Ich weiß es! Sie haben es bei Monara geschafft. Holen Sie Evelyn zurück!"
Raphael wischte Ylva langsam eine Träne aus dem Gesicht. „Es geht nicht..."
Im nächsten Moment schnitt sich das Metall in seinen Hals und hinterließ eine kleine Wunde. „Sie können es sehr wohl!", schrie Ylva „Hören Sie auf zu lügen!"
Raphael stieß Ylva von sich weg. „Ich kann nicht!", schrie er so laut, dass Ylva zusammenzuckte. Raphaels Augen schimmerten glasig. „Ich kann nicht.", wiederholte er leise, „Und du weißt das. Meine Kräfte sind weg. Ich bin nutzlos."
Der Dolch glitt Ylva aus der Hand und fiel zu Boden. Langsam drehte sie ihren Kopf zu Evelyn. Jade beugte sich gerade über sie, während Raven schützend die Arme um sie gelegt hatte. Raphael schaute zu Boden. Eine einsame Träne fiel in das Gras und rutschte an einem der Grashalme herunter. „Es tut mir leid. Ich kann nicht. Es ist zu spät."

Queens- When darkness fallsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt