»Hallo Kyara, tut mir so leid, dass ich erst jetzt antworte. Es ist alles in Ordnung. Voll krass, was da los war mit deinem Vater. Wie war der Zoobesuch?«
Und jetzt? Was sollte ich davon halten? Ich war nicht wütend, sauer oder erleichtert. Auch hatte ich keine Ahnung, warum ich ausgerechnet jetzt nichts fühlte. Da war rein gar nichts. Ich konnte es mir nicht erklären. Marly hatte mir geschrieben, es war Sonntagmorgen – der Tag nach dem Zoobesuch – und das Einzige was sie schrieb, war das.
Erst konnte ich es nicht glauben, als der Chatverlauf auf dem Bildschirm angezeigt wurde. Dann hatte ich ihn mehrere Minuten wie in Trance angestarrt. Ich hatte mir Sorgen um sie gemacht, aber sie schienen umsonst gewesen zu sein. Eigentlich sollte ich froh sein, glücklich, dass es ihr gut ging. Doch nichts dergleichen.
Ich kannte Marly schon lange. Lange genug, um ihre Redensart zu kennen, ihre Sprechweise, ihren Schreibstil. Und dennoch war ich mir unsicher, ob das da wirklich die Worte von meiner besten Freundin waren. Es war kaum wahrnehmbar, doch eine kleine Veränderung hatte stattgefunden. Eine Kleinigkeit, ein Detail, was man nicht mit den Augen sehen konnte. Lediglich spüren konnte ich es. Bei dem Gedanken kam ich mir selber blöd vor und verfluchte mich für die Zweifel. Es würde schon einen vernünftigen Grund geben für ihre Abwesenheit.
»Erzähle ich dir alles morgen«, schrieb ich und warf mein Handy auf die Bettmatratze. Paranoia hin oder her, Marly würde mich in der Schule aufklären.
* * *
Spätestens als das Blaulicht die Fenster des Klassenraumes erreichte, leuchtende Muster an die Scheibe warf und der beißende Klang von schrillen Sirenen meine Ohren erreichte, wusste ich, dass es mehr war, als nur ein unwohles Bauchgefühl. Dass es mehr als nur eine Vorahnung war.
Schon am Montagmorgen verlief alles nicht so wie geplant, nicht so wie erwartet, nicht so wie ich erhofft hatte. Eine schwere Wolkendecke verhängte den Himmel und noch während ich den Klassenraum betrat, mich setzte und das Licht der Deckenlampen mit dem Aufgehen der Sonne ausging, tummelten sich Schüler am Fenster und spähten allesamt nach unten. Für einen Moment blieb ich sitzen, konnte doch der Lehrer jeden Moment durch die Tür treten.
Bis ich realisierte was los war, breitete sich im Raum eine Totenstille aus. Es war so ruhig, dass ich mein eigenes Atmen hörte. Hörte, wie meine Atemzüge mit jeder verstreichenden Minute mehr und mehr rasselten, spürte, wie sich meine Lungenflügel immer schwerer hoben und ausweiteten. Man hätte eine Stecknadel fallen lassen hören. In diesem Moment hätte sich jedes kleinste Geräusch wie eine Explosion angehört. Vermutlich hätte man sogar die imaginäre Schockwelle gespürt.
Kälte zog sich mein Rückenmark empor, eine scharfe Gänsehaut bildete sich auf meinen Oberarmen. Langsam bewegten sich meine Augen nach links, gefolgt von meinem Kopf, dann meinem Oberkörper, bis ich in die Rücken meiner Mitschüler starrte, vorbei an der Tafel, an der sich die Schrift unseres Philosophielehrers entlang zog. »Was ist das Leben?« Eine einfache Frage mit einer schwierigen Antwort.
Bis eben hatte er hier mit der Kreide in der Hand gestanden und wollte den Unterricht beginnen, doch war ganz plötzlich aus dem Raum gerufen worden. Von einem Lehrer, mit dem ich in den letzten Tagen viel zu oft beschäftigt gewesen war. Er öffnete die Tür, kam nicht einmal herein, würdigte mich keines Blickes und schon waren beide Lehrer verschwunden. Noch als deren dumpfe Stimmen durch die Tür in der Leere verhallten, hörten wir sie. Die Sirenen.
Ich hatte natürlich schon oft welche gehört und gesehen, aber sie in direktem Umfeld zu haben – ihren Klang, der mit jedem Meter lauter wurde, die Ohrmuschel zum Schmerzen brachte und das Blaulicht, was mit der aufgehenden Sonne hinter den Wolken fast einen dämonischen Eindruck machte – löste etwas ganz anderes in mir aus, als es sollte.
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TxS // A Rose; A Heart; A Knife
Novela JuvenilEin blauer Fleck zieht teuflische Ereignisse mit sich und beschwört eine Welle aus Gefühlen und Fragen herauf. Warum ist Herr Sanders so plötzlich an Kyara interessiert, warum ist über Nacht eine Schülerin tot und wie passt hier ihr gewalttätiger Va...