17 - Verboten

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Die Tür fiel ins Schloss. Kaum waren die beiden Männer gegangen, sackte ich auf meinem Platz zusammen. Meine emotionslose Fassade fiel, zerbrach am Boden und löste sich in tausend Stücke auf. Meine Augen brannten, eine einzige Träne lief mir über das Gesicht. Dann noch eine und schließlich so viele, dass es unmöglich gewesen wäre, sie alle zu zählen. Unkontrolliert tropften sie auf meine Kleidung, meine Hose.

Ich versuchte nicht einmal, sie wegzuwischen. Es war mir egal, ob Herr Sanders mit mir in einem Raum war oder nicht. Sie konnte nicht tot sein, sie musste doch leben! Warum war ich nicht gegangen? Warum war ich nicht an ihrer Stelle in den Wald gegangen, in die Schlucht gestürzt und...

»Kyara...« Herr Sanders stand neben mir. Er sank langsam in die Hocke und strich mir behutsam über den Arm.

Ein Schluchzen entfuhr mir und ich wurde von Krämpfen geschüttelt. Meine Hände fanden ihren Weg in mein Gesicht und verdeckten die Augen. Zum zweiten Mal seit langer Zeit weinte ich. Jetzt hatte ich endlich einen Grund dazu. Es war, als weinte ich die Tränen, die ich all die Jahre gesammelt hatte, der ganze angestaute Druck löste sich in einem Wirrwarr aus Gedanken, Erinnerungen und Gefühlen. Innerhalb einer Woche waren so viele Dinge passiert, die ich gar nicht richtig hatte verarbeiten können. Alles ausgelöst von einer Auseinandersetzung und einer Alkoholflasche, die meine Wange erwischt hatte und einen Fleck hinterließ, der unglücklicherweise von einer bestimmten Person gesehen wurde. Ausgerechnet.

»Komm.« Auf einmal umfasste Herr Sanders meine Arme und zog mich nach oben, von dem Stuhl runter. »Steh auf.«

»M... Marly war meine beste Freundin... sie... sie ist wirklich tot, oder?«

Halb geformte Worte verließen wie von selbst meinen Mund. Ich wusste nicht, was ich faselte oder überhaupt sagen wollte, doch Herr Sanders nickte, sein Kopf wanderte langsam auf und ab.

»Es tut mir leid.«

Und dann umarmte er mich. Kaum hatte er gesprochen, schon fand ich mich in seinen Armen wieder. Eine Wolke seines Aftershaves strömte mir entgegen und hüllte mich ein. Langsam hob er eine Hand und fuhr vorsichtig über meine Haare. Ich war mir bewusst, dass ich sein ganzes Hemd nass tropfte, doch es kümmerte mich nicht. Nicht jetzt.

Stattdessen wurde ich wieder von Schluchzern geschüttelt und mein Lehrer hielt mich fest und sorgte dafür, dass ich auf den Beinen blieb. Wären die Umstände nicht so schrecklich gewesen, wäre ich eine Weile länger in dieser Position geblieben. Er unterbrach die Umarmung zuerst.

Mit einem Ärmel wischte er sporadisch einige meiner Tränen weg und musterte mein Gesicht. Er war besorgt. Seine Stirn zog Falten und seine Augen waren wachsam auf mich gerichtet. Noch immer hatte er meine Oberarme umfasst. Dort wo er mich berührte, zog sich ein Kribbeln meine Haut entlang.

Erst nach einigen Sekunden – als alle Flüssigkeit versiegt war – brachte ich es über mich, wieder etwas zu sagen. Es sollte beiläufig, fast nebensächlich klingen, doch in dieser Situation hingen meine Worte in der Luft wie Blei.

»Sie war die Einzige gewesen, die mich wirklich mochte.«

Erstaunt starrte mich Herr Sanders an, ehe er sich dazu entschloss, wieder auf dem Stuhl Platz zu nehmen. Auch ich setzte mich und knetete meine Hände.

»Wie meinst du das?«, fragte er und hatte für eine Viertelsekunde den Schimmer dieses Lehrerblickes aufgelegt. Dieser Blick des besorgten Lehrers, der sich ernsthaft um seine Schüler zu kümmern schien, letztendlich jedoch sowieso dafür bezahlt wurde.

Verlegenheit mischte sich unter meine Haut und ich schüttelte den Kopf. »Ach... nicht so wichtig.«

Sein Blick brannte auf mir. Die grünen Augen wanderten mich ab, suchten nach einer Reaktion, einem Anhaltspunkt. Er konnte mich nicht einschätzen, wusste nicht, womit er es hier zu tun hatte. Doch er begann es zu ahnen. War es das, was ihn neugierig machte? Mochte er mich am Ende gar nicht als Menschen, sondern wollte nur hinter mein Geheimnis kommen?

Aber dann passierte etwas, das ich nie für möglich gehalten hätte. Etwas, womit ich nie in dieser Situation gerechnet hätte und was mir im Nachhinein immer noch Kopfzerbrechen bereitete.

»Ich wurde nie geliebt«, sagte ich geradewegs heraus, meine Schultern hoben und senkten sich, als ich seufzte und mein Gegenüber betrachtete. »Früher einmal vielleicht. Doch jetzt nicht mehr.«

Jetzt war es raus, sollte er es doch erfahren. Sollte er das Geheimnis wissen und für immer das Interesse an mir verlieren. Er hatte, was er wollte. Alles war eine Illusion gewesen, eine Täuschung, ein Trick. Nichts davon war real. Aber seine Reaktion war anders. Ganz anders.

Als wollte er mit das Gegenteil beweisen, sah er mich an. Lange, in seinem Kopf arbeitete es. Langsam, fast zaghaft, verzogen sich seine Mundwinkel zu einem kleinen versuchten Lächeln. Seine Hände falteten sich zwischen seinen Knien.

»Nein, das stimmt nicht. Ich glaube nicht, dass du nie geliebt wurdest. Und wenn du anderer Ansicht bist, gestattest du mir«, er beugte sich vorsichtig vor, »das zu ändern?«

Er überwand den Abstand zwischen uns und dann lagen seine Lippen auf meinen. Einfach so. Ich wusste nicht einmal, wie mir geschah. Es kam so überraschend, dass mir der Atem stockte. Unsere Lippen berührten sich kaum, nur zaghaft, und schienen den Kontakt zu testen. Bis er seine Hand auf meine Wange legte und sich stärker in den Kuss hinein lehnte. Seine braunen Haare kitzelten meine Stirn. In mir explodierte es. Noch nie hatte ich mich in so einer Situation befunden.

Da war er wieder. Ein Ballon aus Hummeln. Er blähte sich auf, stieg nach oben und kitzelte mein Zwerchfell. Ein unterdrücktes Grinsen zog sich auf meine Lippen. War es falsch in diesem Moment? Zweifellos, ja. Ein Lehrer durfte seine Schülerin nicht küssen, doch kümmerte es ihn? Nein. Kümmerte es mich? Ebenso nein.

Herr Sanders erhob sich wieder und zog mich einfach mit sich. Seine Hand löste er von meiner Wange und platzierte sie auf meiner Hüfte, die andere fuhr meinen Rücken ab. Ein Schauer durchlief mich, die hundert Ameisen waren zurückgekehrt. Nach endlosen Sekunden trennte sich Herr Sanders von mir und sah mich zuerst prüfend, dann zweifelnd und schließlich mit diesem Funkeln an, das mich schon von Anfang an fasziniert und in den Bann gezogen hatte.

Seine Brauen zogen sich zusammen. Eine Bemerkung verließ seinen Mund. »Du bist außergewöhnlich.« Er strich mir eine Haarsträhne aus den Augen. Er meinte es ernst.

Auf seine Aussage blieb mir nichts anderes übrig, als den Kopf schief zu legen und die Augen zu verdrehen. »Sie sind ein hoffnungsloser Romantiker. Und ein Wahnsinniger.« Meine Stimme wurde ein Flüstern. »Eigentlich ist das hier verboten.«

»Ich weiß.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber du hast dich nicht gewehrt. Ich dachte, es wäre in Ordnung.«

»Ich habe nichts anderes behauptet.« Das gab ihm die Bestätigung.

Ich wusste jetzt, wie der Zettel verschwunden und wieder aufgetaucht war. Das war er gewesen. Er hatte ihn mir aus der Tasche gestohlen, gelesen und mir in der Achterbahn wieder zugesteckt. So musste es sein. Ich hätte es mir auch vorher denken können, auch wenn mir nicht klar war, warum er so etwas tun sollte.

Wie lange wir dastanden wusste ich nicht, doch es kümmerte mich herzlich wenig. Ich hatte andere Sorgen, als den Gedanken, dass er mein Lehrer war. Wir beide wussten, dass es nicht richtig war. Er wusste es und ich wusste es. Dennoch, so falsch es auch sein mochte, wir beide unternahmen nichts, um es zu verhindern. Nach alledem, was passiert war – vielleicht war dies ein Akt der Verzweiflung.

Den Dreck an seinen Schuhspitzen beachtete ich gar nicht.

TxS // A Rose; A Heart; A KnifeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt