10 - Apfel, Blut und Honig

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»Ich glaube, er weiß es.«

»Hm? Was weiß wer?«

»Na Michael. Ich glaube, er weiß von dem Zettel, von deinem Vater, von allem.«

Ein lauter Seufzer entfuhr mir und ich richtete mich auf meinem Stuhl auf. Den Kopf hatte ich in meinen Armen auf dem Tisch platziert, aber die Position wurde unbequem, ich musste sie wechseln. Langsam ließ ich meinen Kopf hin und her Kreisen, wobei meine Augen die Möblierung von Marlys Zimmer abfuhren.

Eine gelbe Deckenlampe tränkte den Raum in Licht und ließ ihn warm und gemütlich wirken. Eine Wassersäule ging von dem Teppichboden bis an die mit Tüchern bedeckte Decke. Luftblasen blubberten in ihr beständig nach oben und hatten eine hypnotische Wirkung.

Es war bereits Donnerstag. Nach dem Vorfall gestern Abend war ich schnurstracks zu meiner Freundin gegangen und durfte hier übernachten. Am frühen Morgen war ich wieder nach Hause aufgebrochen, um mich umzuziehen und meine Schulsachen zu holen. Ich hatte wieder vor Augen, wie ich nach oben geschlichen war, völlig ohne Grund, denn mein Vater schlief im Wohnzimmer. Wie immer.

Jetzt war es wieder Abend, ich saß bei Marly an dem kleinen runden Tisch und wartete darauf, dass sie endlich mal Klartext sprach.

»Glauben heißt nicht wissen«, sagte ich.

Sie nickte am anderen Ende des Zimmers und kramte in einer Ecke herum. »Stimmt.«

»Und warum glaubst du das?«

»Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher. Ich habe Karten gelegt.«

Ja, Marly war eine echte und von sich hochüberzeugte Esoterikerin. Man konnte meinen, sie hätte alles. Von Kristallkugeln bis hin zu Ouija-Brettern, Zauberbüchern und Karten.

»Tarotkarten? Na super. Und, was sagen sie?«

»Du denkst doch, sie seien Unfug. Warum möchtest du das wissen?« Endlich kam sie aus der Ecke hervor und ließ sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches fallen. Herausfordernd leckte sie sich über die Lippen, verfiel aber sofort wieder in ihr gewohntes Lachen.

Mein Mund verzog sich automatisch, ebenso Augenbrauen und Nase. »Weil es hier um mich geht?«

»Wow, wie selbstlos«, rief sie ironisch und packte einen Stapel Tarotkarten auf das blaue Tuch auf dem Tisch. Sie platzierte es inmitten eines goldenen Pentagramms. Ich verdrehte die Augen.

»Können wir nicht einfach anfangen, mit was auch immer du anfangen möchtest?«

Wir hatten diesen Termin wegen etwas anderem ausgemacht. Ich hatte keinen Schimmer, um was es hier eigentlich ging, aber meine Freundin wusste es umso besser. Unbedingt wohler fühlte ich mich bei dem Gedanken nicht. Es kann nichts passieren.

»Warte noch, ich muss vorher noch kurz etwas überprüfen.« Sie fächerte die Karten auf dem Stofftuch aus und schob sie mir entgegen. »Hier, zieh mal.«

Goldene Kartenrücken strahlten mir entgegen. »Wie viele?«

»Pfft... keine Ahnung, fangen wir mit drei an. Ja, nimm mal drei.«

Ich gehorchte ihr einfach und zog. Die Papierkarten mit der glatten Oberfläche legte ich in einer Reihe vor mir aus.

»So, was haben wir?«, murmelte sie zu sich selbst und riss erstaunt die Augen auf. »Oh! Hm, das ist interessant. Du bist ihm gestern nicht zufällig über den Weg gelaufen?«

Mein Herz machte einen Satz. Sowie die Erinnerung in mir aufstieg, kletterte auch die Hitze wieder meine Adern empor, diese verdammten Hummeln, der Heliumballon hinter meiner Bauchdecke. Für einen Augenblick hätte ich es gerne noch einmal erlebt.

TxS // A Rose; A Heart; A KnifeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt