12 - Chicken-Nuggets

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Warum ich sein Angebot nicht angenommen hatte? Keine Ahnung. Zuhause blieb mir auch keine Zeit, mich deswegen zu ohrfeigen. Etwas ganz anderes beschäftigte mich. Nicht Herr Sanders, nicht der Tod Elenas, nicht Marly, sondern mein Vater.

Er war nicht zuhause, als ich ankam. Ich stand eine Weile vor der Tür, öffnete sie wie immer und erwartete ihn im Wohnzimmer anzutreffen, betrunken oder in anderweitigem Zustand. Doch er war weg. Spurlos verschwunden. Es kostete mich einige Sekunden, um zu realisieren, dass ich das ganze Haus, und diesmal das komplette Haus, für mich alleine hatte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren zog ich alle Vorhänge auf, öffnete alle Fenster und genehmigte mir in aller Ruhe ein Glas Orangensaft.

Erst am Abend betrat mein Vater wieder das Haus. Unten rumpelte es, ich horchte auf und schlich mich an das Treppengeländer. Die Lampen an den Wänden wurden eingeschaltet. Im Eingangsbereich bot sich mir ein skurriler Anblick: Richard Menten, bekleidet mit weißem Hemd, schwarzer Hose, braunen Lederschuhen und einer Tüte in der Hand. Eine McDonalds-Tüte. Er war Essen kaufen. Er sah mich nicht auf der obersten Treppenstufe stehen. Er stellte die Tüte auf den Küchentisch, ging direkt ins Badezimmer und wusch sich ausgiebig die Hände. Erst nach mehreren Minuten verließ er den Raum und ich konnte nicht anders, als ihm zu folgen.

Ich musste ausgesehen haben, wie ein Geist. Mein Vater stoppte in der Bewegung zwei Teller aus dem Schrank zu nehmen und sah mich an. Lange und intensiv. Seine Augen lagen auf mir mit einer Wachheit, die ich in der Art und Weise so noch nicht bei ihm gesehen hatte.

Ohne etwas zu sagen, stellte er das Geschirr mit Gläsern und Besteck hin. Zusammen mit dem Ticken der Uhr war das Klirren das einzige Geräusch im gesamten Raum, im gesamten Haus und vermutlich auch in der ganzen Straße. Für mich schien alle Welt die Luft anzuhalten. Die Zeit stand still, mein Atem bildete Wolken und für eine Sekunde war ich nicht auf dieser Welt.

»Hab Essen gekauft.«

Als er auf die Tüte zeigte und ich nicht antwortete, schnaubte er und setzte sich einfach. Ich blieb regungslos im Türrahmen stehen und wusste nichts mit mir anzufangen. Ich musste auf keine Erlaubnis warten, mich zu setzen, dennoch konnte ich mich kein Stück rühren. Meine Füße in den Schuhen waren wie festgefroren.

Mein Vater goss sich etwas Cola in ein Glas. Es war das erste Mal, dass er keinen Wein oder anderen Alkohol zu sich nahm. Überhaupt war es das erste Mal, dass er sich wie ein normaler Mensch, fast wie einen normalen Vater benahm.

Als ich immer noch nichts sagte, drehte er sich und schaute über die Schulter. »Pommes und Chicken-Nuggets.«

»Hm.« Zu mehr war ich nicht fähig.

Ich setzte mich ihm gegenüber, schenkte mir Wasser ein und zog die Tüte mit Essen heran. Skepsis mischte sich unter meine Verwirrung und ich wusste nicht, ob ich dankbar oder verängstigt über den Zustand meines Vaters sein sollte.

Seine Stimme klang ruhig, fast monoton. »Wie war die Schule?«

Für mich hatte er eine Spur Desinteresse an sich. Bevor ich antwortete, entschied ich mich für ein paar Chicken-Nuggets und schob mir einen in den Mund. Fast verschluckte ich mich, es war heiß. Nur einmal bis jetzt war ich bei einem Schnellimbiss gewesen, und zwar mit Marly. Und das nur, weil sie mich unbedingt in einen mitnehmen wollte. Mir war es bis dahin völlig fremd gewesen.

»Gut, wie immer«, meinte ich. Mein Gehirn traute sich nicht, meine Stimme lauter und voller klingen zu lassen. Die Angst ruderte immer im Hintergrund herum, wartete auf den Angriff.

Er nickte langsam und nippte an seiner Cola. »Wie immer also.«

Seine Aufmerksamkeit lag mehr auf seinem Teller, als auf mir. Ich konnte ihn in aller Ruhe beobachten, auch wenn ich mich vorsehen musste. War etwas anders als sonst? Ein Stück Pommes wanderte in meinen Mund.

TxS // A Rose; A Heart; A KnifeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt