»Marly Behrens.«
Eine braune Akte wurde mir entgegen geschoben und der Polizist blickte mir aus dunklen Augen entgegen. Er hatte seine Jacke über die Stuhllehne gelegt, sich einen Kaffee bringen lassen und sich zurückgelehnt. Während der andere auf seinem Klemmbrett herumkritzelte, hatte Herr Sanders neben mir Platz genommen, die Beine übergeschlagen und die Arme vor seiner Brust gekreuzt. Er schien sichtlich unzufrieden mit der Situation, in der wir uns befanden – besser gesagt, in der ich mich befand.
»Marly Behrens«, wiederholte der Polizist. »Du hast sie gekannt?«
Ein Namensschild auf seiner Brust verwies auf den Namen Magnus Mainart. Wir hatten uns in einen der Räume im Erdgeschoss begeben, er saß vor einem der Fenster und das weiße Licht in seinem Rücken ließ ihn beinahe gespenstisch wirken.
Mehr als ein Nicken brachte ich auf seine Frage nicht zustande. »Bitte, sagen Sie mir, was passiert ist.« Es war mehr ein Hauchen, als ein richtiger Satz. Jedes gesprochene Wort wurde von dem blauen Teppich geschluckt und dumpf, doch mein Gegenüber verstand und nickte in sich hinein. Die Atmosphäre in diesem Raum war erdrückend, meine Beine wurden von tausend Nadelstichen durchzogen, meine Hände waren eisern zu Fäusten geballt, meine Kiefermuskulatur angespannt. Ich fror, obwohl die Heizung auf Hochtouren lief.
»Nun ja, es tut mir Leid...«
»Mir wurde gesagt, es hat einen Unfall gegeben... Was ist denn passiert? Was ist mit Marly?« Ich lehnte mich ihm entgegen und stützte mich auf den Arm ab. Warum konnte er nicht einfach sagen, was los war? Immer diese Geheimniskrämerei, ich hasste es. Wusste er denn nicht, was es in mir auslöste? Der ausweichende Blick, das Zögern... mir war, als würde ich jeden Moment in einen tiefen Brunnen fallen, aus dem ich nie wieder heraus konnte, nie wieder das Tageslicht sehen würde und wenn es regnete, hilflos ertrank. Es sei denn, jemand würde mich retten. Aber wer würde das schon?
»Die Wahrheit ist«, endlich fuhr er fort, »man hat sie heute Morgen gefunden. Im Wald, ich weiß nicht, ob du alle Einzelheiten wissen willst.«
Oh nein. Ich wurde bleich, kreidebleich. Ich spürte das Blut aus meiner Gesichtspartie fließen und mein Gehirn zum Aussetzen bringen. Mein Atem stockte, ich wurde von einer Wand aus Watte übermannt, konnte nicht atmen. Ich brauchte Luft. Scharf zog ich sie in meine Lungen, doch anstatt frischen Sauerstoffs sogen sie all das zähflüssige Gel auf, das die gesamte Atmosphäre in diesem Raum füllte. Ich wusste, was der Polizist als nächstes sagen würde. Ich hatte es schon gewusst, seitdem ich mich gesetzt hatte.
»Bitte«, hauchte ich.
»Sie ist tot. Vermutlich über eine Baumwurzel gestolpert und dann in einen kleinen Graben gefallen, keine fünf Schritte weiter. Ihr Genick war gebrochen. Muss wohl beim Aufprall passiert sein. Ihr Gesicht war blutverschmiert, es wäre wohl besser, du wirfst keinen Blick auf die Bilder. Das könnte dir einiges ersparen. So etwas wird man nicht mehr so schnell los.«
Einen Moment lang wurde mein Sichtfeld schwarz. Die Bilder vor meinen Augen verschwammen, gingen ineinander über und verdoppelten sich zu einer Realität, die alle meine Ängste widerspiegelte. Ich fragte mich, wie sich Mainart fühlte. Hatte er eine Frau, Kinder, Familie? Konnte er nachvollziehen, wie es war, jemanden zu verlieren, der einem die wichtigste Person im Leben war? Ahnte er, was ich empfand? Was seine Nachricht, seine eben gesprochenen Worte in mir entfachten? Den Schock, die Angst, den Selbsthass?
Ich wusste, dass ich mir nicht die Schuld geben durfte. Ich bin nicht schuld. Doch änderte es etwas? Nein, tat es nicht. Sie war nicht mehr da... sie würde nie mehr da sein, sie war tot! Wegen mir, allein wegen mir.
»Wann ist es...?«
Der Polizist seufzte. »Genaueres können wir noch nicht sagen, aber wir gehen von Donnerstag aus, zwischen halb elf und ein Uhr nachts.«
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TxS // A Rose; A Heart; A Knife
Novela JuvenilEin blauer Fleck zieht teuflische Ereignisse mit sich und beschwört eine Welle aus Gefühlen und Fragen herauf. Warum ist Herr Sanders so plötzlich an Kyara interessiert, warum ist über Nacht eine Schülerin tot und wie passt hier ihr gewalttätiger Va...