Draußen regnete es wieder. Der Tag hatte recht gut angefangen, ich war pünktlich aufgestanden, meinem Vater nicht begegnet und war rechtzeitig in der Schule gewesen. Ich hatte die Treppen mit Leichtigkeit genommen, jetzt erschienen mir die Stufen wie eine nasse Brücke. Die ganze Schule wusste Bescheid, eine kleine spontane Trauerfeier und Schweigeminute wurde abgehalten und der Unterricht für heute existierte nicht mehr.
Mit der schweren Tasche auf dem Rücken schlich ich die Treppen herunter, Stufe für Stufe. Seit Jahren hatte ich keinen glücklichen Tag mehr gehabt. Der heutige war auch gelaufen. Der Tod war mir ein ständiger Begleiter. Er lastete auf mir wie eine Gewitterwolke, die man spürte, aber nicht vertreiben konnte. Und wenn man sie sah, war es zu spät. Und an allem ist mein Vater schuld. Was vermutlich nicht einmal stimmte.
In einem Klassenraum raschelte es. Gleichzeitig stieg mir ein bekannter Geruch in die Nase und aus den Augenwinkeln sah ich eine dunkle Gestalt auf dem Pult sitzen. Die Tür war nur angelehnt, ich blieb stehen. Ich spähte durch den Spalt und erblickte Herrn Sanders. Der Raum war leer, keine Schüler. Meine Klasse wurde früher herausgelassen, ich war mir von daher ziemlich sicher, dass er nicht unterrichtet hatte. Wie sollte er auch.
Während er ein paar lose Unterlagen wahllos in seine Tasche räumte, suchte ich sein Gesicht. Es war glatt, keine Regung, emotionslos. Seine Augen? Nichts. Er wirkte nur trüb, seine Ausstrahlung war anders. Er bemühte sich, seine Fassade zu erhalten. Ich kannte es, ich tat es jeden Tag selber immer wieder aufs Neue. Ich zog eine Maske über, die mein Innerstes verbarg, sogar vor Marly. Eigentlich wusste keiner, wer ich wirklich war. Selbst ich nicht. Manchmal war ich mir selbst ein Fremder.
Herr Sanders' Maske saß perfekt. Er ließ sich nichts anmerken. Trotzdem spürte ich eine Veränderung. Er rutschte vom Pult. Die Mikromimik. Man konnte sie nicht steuern und kontrollieren. Sie war Teil von einem und ebenso wenig beeinflussbar, wie die Emotionen. Man konnte sie verbergen, aber sie war immer da und nie ganz weg.
Geh rein, dachte ich. Geh rein und erzähle ihm von deinem Verdacht. Elena konnte doch nicht zur Schule. Aber es war nicht der einzige Grund. Es war, als verbot mir eine fremde Macht, den Raum zu betreten. Ich hatte nicht bemerkt, wie schnell mein Herz bereits schlug.
So wie ich ihn da stehen sah, die linke Hand in der Hosentasche, mit der anderen den Tafelschwamm haltend und die Kreide abwischend, hatte ich das Bedürfnis, mich umzudrehen. Zu laufen, das Gebäude zu verlassen und mich zu verkriechen. Doch andererseits... wollte ich zu ihm gehen und ihn fragen. Fragen was er gesehen hatte, was er fühlte. Ich war mir Bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wer mich fast zwei Jahre lang in Deutsch und Sport unterrichtete. Umso seltsamer empfand ich genau dieses Verlangen, es jetzt zu erfahren.
»Willst du vor der Tür stehen bleiben, oder reinkommen?«, kam es auf einmal und ich horchte auf. Dann verfluchte ich mich, drückte die Tür aber auf und trat ein. Ich hatte fünf Minuten vor der angelehnten Tür gestanden, natürlich musste er mich bemerkt haben.
Ein roter Schimmer legte sich auf meine Wangen. Glaubte ich, zumindest fühlte es sich so an. Meine gesamte Gesichtspartie war heiß. Ich hasste dieses Gefühl. Es erinnerte mich zu stark an das Brennen der Hand, der Flasche, des Messers.
»Kann ich dir irgendwie helfen?« Er sprach es direkt an, kein guten Tag, nur ein knapper Blick und schon hatte ich wieder seinen Rücken vor mir. Doch überlegte er es sich anders, wandte sich wieder um und trat zu seiner Tasche. Eine typische Lehrer-Tasche. Sein typisches Lehrer-Hemd trug er heute nicht, dafür einen dunklen Pullover und schwarze Hose. Seine Haare waren zerzaust, wodurch diese allerdings nicht weniger flaumig aussahen.
Da waren sie wieder. Ich ignorierte die Hummeln, vertrieb sie mit imaginären Fliegenklatschen und konzentrierte mich auf seine Frage. Es gelang mir nicht recht. Ich druckste herum, suchte nach den richtigen Worten, vermied Augenkontakt und merkte meinen Puls in die Höhe steigen.
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TxS // A Rose; A Heart; A Knife
Teen FictionEin blauer Fleck zieht teuflische Ereignisse mit sich und beschwört eine Welle aus Gefühlen und Fragen herauf. Warum ist Herr Sanders so plötzlich an Kyara interessiert, warum ist über Nacht eine Schülerin tot und wie passt hier ihr gewalttätiger Va...