9 - Eine Begegnung zu viel?

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»Hoppla. Oh, Kyara?«

Ich hatte noch nie an Karma geglaubt. Jetzt tat ich es auch nicht, doch fing ich an zu hinterfragen, ob ich gerade das Glück oder Unglück anzog. Warum musste einem immer genau die Person genau dann begegnen, wann man sie am wenigsten gebrauchen konnte? Stocksteif blickte ich an Herrn Sanders empor, keuchend und mit Panik erfüllten Augen. Nicht gut, gar nicht gut. Mein Lehrer verlor keine Sekunde.

»Du siehst aus, als hättest du einen Wolf gesehen«, bemerkte er und musterte mich von Kopf bis Fuß.

»Heißt es nicht ‚Geist'?« Etwas anderes fiel mir nicht ein.

Er zuckte mit den Schultern. »Ist doch fast dasselbe.« Dann rückte er von mir ab und die Wärme seiner Arme wich der Kälte des Windes, der die Baumkronen zum Tanzen brachte. »Kommt auf das Gleiche heraus. Ist etwas passiert?« Er sah an mir herunter, besorgt hielt er an meiner Seite inne. »Was ist mit deinem Arm?«

Auch ich betrachtete ihn und fuhr über mein Handgelenk. Rote Striemen zogen sich an der Innenseite entlang und blaue Spuren zeichneten sich dort ab. Die Außentemperatur kühlte ihn, hielt den Schmerz fern und machte mich taub. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, wägte meine Chancen ab.

»Ich war«, ein kurzes Zögern, »auf dem Weg zu Marly. Ich habe mir den Arm wohl angehauen. An einem der Zäune da hinten.«

»In solchen schicken Klamotten? Habt ihr noch etwas vor?«

»Was?« Hatte er gerade schick gesagt? Irritiert sah ich ihn an, dann schlang ich meine Arme um meinen Oberkörper. Ich unterdrückte ein Zittern. Ich verfluchte mich, warum hatte ich keinen Mantel mitgenommen. Genau, mein Vater. Er war mir so schnell nachgerannt, ich hätte nie im Leben den Kleiderhaken erreichen können. Und wenn doch, dann hinge vermutlich ich jetzt dort.

»Eine Veranstaltung? Oder ein Doppeldate vielleicht?«

Doppeldate? Warum fragte er das? Was hatte er vor? Dann dämmerte es mir, ich schluckte. Er glaubte mir nicht. Ich wusste, warum. Meinen Ausreden, meinen Lügen, würde ich mir selber nicht einmal glauben. Wenn ich genauer darüber nachdachte, wusste ich nicht, warum ich dieses Spiel noch mitspielte. Die Beweise lagen auf der Hand, besser gesagt, an meinem Körper. In meinem Gesicht, an meinen Händen, auf meinen Armen und in meiner Seele. Mein Herz war schon vor langer Zeit gebrochen worden. Umso erstaunter war ich bei dem Gefühl, das sich meine Magengrube emporschlängelte.

Herr Sanders sah mich an und schenkte mir seine Aufmerksamkeit. Wie schon heute Mittag in der Schule. Aber ich konnte nicht. Ich konnte es ihm nicht sagen, meine Zähne klebten aufeinander, wollten mich meinen Mund nicht öffnen lassen.

»Warum sind Sie hier?« Die Frage war banal, eigentlich völlig unwichtig. Ich wich seiner Frage bewusst aus, er spürte es.

»Ich wohne hier, nehme ich an«, sagte er und rieb sich mit einer Hand den Nacken. Mit der anderen deutete er auf eins der Reihenhäuser mit Steinfassade.

»Oh.« Es war dunkel, aber sein Vorgarten wurde von einer der Straßenlaternen beleuchtet. Ein kleiner Kiesweg führte zur Eingangstür und wurde von sauber gemähtem Rasen eingerahmt. Ein Beet mit Kakteen erkannte ich, der Rest war in Schwärze gehüllt. Er wohnt hier?

»Wir Lehrer haben schließlich auch ein Privatleben, oder?« Er schenkte mir ein Grinsen, was die Hummeln wieder aufleben ließ. Trotz allem hatten ausgerechnet sie die Attacke am Abend ohne Verletzungen überstanden.

»Nun zurück zu dir.«

Ich blinzelte und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Nein, bitte, fragen Sie nicht. Ich wollte ihm diese Frage – was passiert war – nicht beantworten. Es war dumm, ich konnte mir die Angst davor nicht erklären. Aber er sollte es nicht wissen. Wenn er es nicht eh schon weiß.

TxS // A Rose; A Heart; A KnifeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt