Was sich meine Eltern gedacht hatten, als sie mich Lucrecia genannt hatten, war mir ein Rätsel. Der Name bedeutete Reichtum, ich war allerdings alles andere als reich. Anders als meine drei Brüder interessierte mich Geld herzlich wenig, gebrauchen konnte ich es trotzdem, die Miete zahlte sich schließlich nicht von alleine. Mit meinen 25 Jahren hätte ich, wenn es nach ihnen gegangen wäre, bereits verheiratet und Mutter sein sollen, was sich etwas schwierig gestaltete, wenn man keinen Mann fand. Ganz unschuldig waren Alarico, Enrique und Ramon nicht, sie verscheuchten nämlich jeden, der mir auch nur ansatzweise näher kommen wollte und ich hasste es. Ich selbst war zwar kein Mitglied ihrer Gang, dennoch versuchten sie mir ständig ihre Regeln aufzuzwingen. Dazu gehörte, dass ich nur einen Mala Noche heiraten durfte, ich ausnahmslos immer um Erlaubnis beim Anführer - in diesem Fall Alarico - fragten musste und ich ohne sein Einverständnis nicht mal die Stadt verlassen durfte. Ihr fragt euch sicher, wie es dazu kam, dass ich unfreiwillig in so eine Ganggeschichte gerutscht bin. Ich werd's euch erklären. Meine Eltern kamen in den 80ern nach Deutschland. Mein Vater hatte versucht sich normale Jobs zu suchen, vor allem als meine Mutter mit Alarico wurde, aber weil er keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung bekommen hatte, machte er in Berlin dasselbe, was er auch schon auf Puerto Rico getan hatte: Drogen verkaufen. Ich glaube, es war einfach nur Glück, dass er gute Verbindungen hatte und sich dadurch ziemlich schnell eine Art Imperium aufgebaut hatte. Zum Dealen kamen dann irgendwann auch Prostitution, illegale Hundekämpfe, Raubüberfälle und Auftragsmorde dazu und mein Vater als der König hatte auf einmal mehr Geld als er es sich jemals hätte erträumen können. Trotzdem gelang es ihm irgendwie immer, nicht auffällig zu werden, sogar teilweise mit der Polizei zusammen zu arbeiten, damit er die Konkurrenz nicht selbst ausschalten musste. Als ich geboren wurde, war er bereits ein gefürchteter Mann in unserem Viertel und ich gebe zu, es hatte Vorteile sein Kind zu sein, wie zum Beispiel Geld, eine gewisse Macht oder Menschen, die auf mich aufpassten, aber ich war schon immer gegen dieses Leben gewesen. Nachdem meine Mutter erschossen wurde, wollte ich nur noch weg von dieser Familie, auch wenn das bedeutete, dass ich meine Privilegien aufgeben musste. Meinem Vater gefiel das überhaupt nicht, aber da ich der Gang nie beigetreten war, konnte er mich nicht zwingen zu bleiben und bis er bei einer Razzia festgenommen wurde und mein Bruder die Führung übernahm, war das auch kein Problem gewesen. Seit etwas mehr als zwei Jahren ging er mir ziemlich auf die Nerven. Früher hatte ich es toll gefunden, drei große Brüder zu haben, die mich beschützten, weil sich einfach niemand freiwillig mit mir angelegt hatte, aber mit 25 hätte ich ihnen am liebsten allen dreien den Schädel eingeschlagen, nur um einmal meine Ruhe haben zu können.
Mal wieder saß ich im Büro Alaricos und rollte genervt mit den Augen. Mein Vater hatte seinen Namen mit Bedacht ausgesucht, er bedeutete nämlich Herrscher über alles und genau so fühlte er sich auch. Ramon und Enrique standen jeweils links und rechts hinter ihm, sie waren wie seine Schoßhunde, die alles taten, was er ihnen auftrug. Ich bekam eine Standpauke, wie wichtig doch die Familie war und was sie für die Gang bedeutete. "La familia es lo más importante, Lu.", predigte er in einem strengen Ton. "Ja, Rico, das weiß ich, aber könnt ihr mich nicht einfach mal mein Leben leben lassen?", erwiderte ich genervt. "Als Mala Noche muss man Regeln befolgen.", mischte sich nun Ramon ein. "Ich bin kein Mala Noche! Versteht ihr das nicht?", entgegnete ich entrüstet. Ich verstand einfach nicht, warum sie nicht akzeptieren konnten, dass ich nicht war wie sie oder ihre Frauen. "Du wurdest hineingeboren und hast keine Wahl, querida.", erklärte Enrique und seufzte dann. Er war der einzige meiner Brüder, der wenigstens etwas Vernunft besaß und meist auf meiner Seite stand. Ihm stand ich am nächsten, was aber mehr daran lag, dass wir nicht so einen großen Altersunterschied hatten. Es waren nur zwei Jahre, bei Ramon waren es fünf, bei Alarico sogar acht. "Ihr haltet euch immer so penibel an die Regeln, die Papa aufgestellt hat, aber an die, dass man nicht in die Gang geboren wird und erst aufgenommen werden muss, denkt ihr komischerweise nie.", antwortete ich und verschränkte meine Arme vor der Brust. "Bei dir ist das was anderes. Du bist nunmal die Tochter des cabecillas.", gab Alarico streng zurück, stand auf und stellte sich direkt vor mich. "Wenn ihr euch an Regeln halten wollt, dann an alle, auch an diese. Ich bin kein Mala Noche und damit basta und wenn ihr mich jetzt entschuldigt, ich muss zur Arbeit!", entgegnete ich mit fester Stimme und wurde dabei wirklich wütend. Ich wollte aufstehen, doch mein Bruder drückte mich zurück in den Stuhl. "Du gehst erst, wenn ich es dir erlaube!", sagte er mit einem aggressiven Tonfall. Auf andere Menschen mochte er vielleicht einschüchternd wirken, ihnen sogar Angst machen, aber nicht auf mich, weswegen ich grob seine Hände von meinen Schultern drückte, ihn voller Wut anstarrte und ihn gewaltsam zurückschob, damit ich aufstehen konnte. "Ich bin kein kleines Kind mehr, Alarico und ich bin auch nicht dein Eigentum! Nimm also deine dreckigen Griffel von mir und geh mir aus dem Weg!", schnauzte ich ihn ziemlich laut an, woraufhin er tatsächlich etwas zurückwich. Es war das erste Mal, das ich in so einem Ton auf ihn reagiert hatte. Bei einer ähnlichen Situation nur wenige Wochen zuvor war ich diejenige gewesen, die sich gefügt hatte, denn mein Bruder hatte keinerlei Problem damit auch mal zuzuschlagen. Ich nutzte es aus, dass er perplex war, schob mich an ihm vorbei und ging auf die Tür zu. Kurz bevor ich die Tür erreicht, packte er mich am Handgelenk und hielt mich auf. "Pass auf, wie du mit mir redest!", kam es verdammt wütend aus seinem Mund. "Sonst was? Erschießt du mich dann, wie deine Ex?", fragte ich provozierend. Man konnte in seinen Augen erkennen, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte. Mein Bruder schüttelte den Kopf, bevor er mir eine ziemlich harte Backpfeife verpasste. Sofort griff ich nach meiner Wange, die höllisch schmerzte. Mir kamen die Tränen, aber nicht wegen der Schmerzen, sondern weil ich so sauer auf ihn war, dass mein Körper keine andere Reaktion mehr fand. Er holte erneut aus, als ich ihn wieder ansah, doch Ramon kam auf uns zugelaufen und hielt seine Hand zurück. "Es reicht, Diablo!", schrie er und lenkte somit Alaricos Aufmerksamkeit auf sich. Diablo war Alaricos Name in der Gang und er hätte keinen passenderen bekommen können. Wahrscheinlich hätte der Teufel höchstpersönlich Angst vor ihm gehabt. Auch wenn es nur wenige Sekunden waren, reichte das, um mich von ihm loszureißen und die Tür zu öffnen. "¡Vete al infierno!", rief ich an meinen ältesten Bruder gewandt, bevor ich sie hinter mir zuknallte und schnellen Schrittes Richtung Treppe ging. Ich konnte hören, wie er und Ramon sich laut anfingen zu streiten, dann wie Tür sich öffnete und mir jemand folgte. Eigentlich hatte ich schon damit gerechnet, nun aufgehalten und erneut geschlagen zu werden, aber stattdessen hörte ich Enriques Stimme, die nach mir rief. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, blieb stehen und drehte mich zu ihm um. "Könnt ihr mich nicht einfach mal in Ruhe lassen?!", fuhr ich ihn mit zittriger Stimme an. "Lu, du weißt wie er ist... Er will nur das Beste für dich.", versuchte er mich zu beruhigen. "Das Beste?! Hör auf ihn ständig in Schutz zu nehmen!", antwortete ich, bevor ich völlig in Tränen ausbrach. Enrique zog mich am Handgelenk zu sich und nahm mich in den Arm. "Ich nehm ihn nicht in Schutz. Lu, du bist das kostbarste, was er hat und er will dich einfach nicht verlieren wie Mama.", erklärte er, während er mir über den Kopf streichelte. "Dann soll er mich aus diesem Leben raushalten, denn genau das hat sie umgebracht.", entgegnete ich, als ich mich wieder beruhigt hatte und mich von ihm löste. "Ich werd versuchen, ihm das zu erklären. Jetzt komm, ich fahr dich zur Arbeit.", antwortete er nickend. "Danke, ich laufe lieber!", lehnte ich kopfschüttelnd ab, drehte mich um und verließ dann den Club, in dem das Büro lag.
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Diabla. (Nico Santos)
Fanfiction-"Du bist wie eine Droge, die ich niemals probieren hätte sollen!"- Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an. Lucrecia wächst zwischen Gewalt, Drogen und Angst auf, während Nico sich davon eher fern hält und trotzdem können die beiden nicht ohne ein...