• 𝒐𝒏𝒆 •

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Taehyung

Wie definiert man Schmerz?

Eines war sicher, jeder verstand darunter etwas anderes. Menschen fühlten und beschrieben ihn auf verschiedentste Weise und in unterschiedlicher Intensität- von einem kleinen Zwicken bishin zu einem Extrem, das in ohrenbetäubenden Schreien endete.

Für Kim Taehyung war das Spüren von Schmerz wie das Atmen.

Er schlug morgens seine Augen auf und der Schmerz war einfach da, wie der erste, tiefe Atemzug, bevor er ihn am Abend wieder mühsam in den Schlaf wiegte.

Seit er sich erinnern konnte war der Schmerz sein bester Freund und sein schlimmster Feind zugleich- zwar war er immer bei ihm, doch er wünschte sich, dass er allein wäre. Es gab für ihn also nur zwei Wege, wie er etwas ausdrücken konnte, das so allgegenwärtig, das seine dunkle Normalität war.

Der eine Weg war seine Musik. Er spielte ihn melodisch durch die dünnen Saiten seiner Violine, damit die Töne ihn davontrugen, wenigstens für eine Weile.

Doch an manchen Tagen wollte er ihn nicht fortschicken, er wollte ihn spüren. Wurde ein Gefühl erst einmal zur Normalität, vergaß man seine Farbe, seinen Klang, seine Bedeutung.

Heute war einer dieser Tage, an denen Taehyung wieder dran erinnert werden wollte, was er eigentlich fühlte und aus welchem Grund.

Er stellte das heiße Wasser ab und schob den Duschvorhang zur Seite, um die Schublade der kleinen Badkommode zu öffnen. Winzige Dampfschwaden stiegen von seiner Haut auf, so heiß hatte er mal wieder geduscht, ohne es zu merken.

In der ersten Schublade fand er den dicken Waschlappen, in den er eine hauchdünne Rassierklinge eingerollt hatte. Vorsichtig holte er sie heraus und betrachtete seinen dunklen Umriss in dem beschlagenen Spiegel.

Der Waschlappen erzeugte ein leises quietschen, als Taehyung damit über die glatte Oberfläche rubbelte, um sich in seine tiefbrauenen Augen zu blicken. Das nasse, schwarze Haar klebte ihm in dicken Strähnen im gebräunten Gesicht und er atmete schwer in der heißen, feuchten Luft.

Ihm könnte ebenso gut eine fremde Person gegenüberstehen, so wenig wusste er mit seinem eigenen Anblick anzufangen. Es gab nur eine Möglichkeit, diesen unbekannten Körper zu fühlen.

Kim Taehyung durchlebte tagtäglich eine betäubende Kälte in seinem Inneren, und solange es in seinem Leben nichts gab, an dem er sich wärmen konnte, würde er ein Feuer anzünden und darin brennen, bis er wieder dankbar für die Kälte war.

Er drückte die spitze Klinge in seine weiche Haut und führte sie langsam, aber mit gleichmäßigem Druck, seinen schmalen Unterarm entlang nach oben. Schon recht schnell breitete sich das wohlige Brennen in seinem Arm aus, und warmes Blut quoll aus der tiefen Schnittwunde.

Die dunkle Stimme seines Onkels hallte durch seinen Kopf: "Du weißt, dass du das verdienst, richtig? Lass dir diesen Schmerz eine Motivation sein, besser zu werden."

Taehyung legte den Kopf in den Nacken und lächelte bitter, während das Blut in dunklen Rinnen seinen Arm hinab floss und auf die weißen Fließen seines Badezimmers tropfte. Dies war die Strafe, für all seine Fehler, wann immer er sich auf der Violine verspielt hatte, wann immer er zu lange gebraucht hatte, um ein Stück zu lernen, wann immer er seinen Onkel enttäuscht hatte.

Solange es seine Strafe war, hatte es immerhin einen Sinn.

Und wenn er endlich perfekt war, so wie sein Onkel es von ihm erwartete, dann würde der Schmerz, vielleicht, eines morgens tatsächlich weg sein.

___note______________

Erstes Kapitel- check! ✓

Was ist euer erster Eindruck?

Ich orientiere mich an Taehyung mitte 2019 bis Anfang 2020, als er eine ziemlich schwere Zeit durchmachen musste. Es ist mir wichtig, Tae und Jungkook in meinen Geschichten möglichst authentisch zu halten und nicht nur zwei fremde Persönlichkeiten mit denselben Namen zu entwerfen... also seid gespannt auf mehr!

xoxo

Liza

The Violinist | taekookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt