Der 23. April 2013 war nicht nur der Geburtstag von Annas, Justines und Stefanies bester Freundin, sondern es war auch der Tag, an dem Natalie spurlos verschwand. Es war ihr 13. Geburtstag und sie wollte ihn mit ihren Freundinnen feiern. Als der Tag begann und die Freundinnen vor Natalies Haustür standen, war auf einmal alles anders. Das Haus war vollkommen leer. Es war als hätte Natalie und ihre Familie nie existiert. All die Sachen, Möbelstücke, Bücher und Dekorationen im Haus, die an Natalie und ihre Familie erinnerten, waren fort. Wie ein Geisterhaus oder ein Spuckschloss, hatte das Haus nun eine furchteinflößende Aura. Es jagte den Freundinnen eine solche Angst ein, dass sie überstürzt aus dem gelben Haus an der Kreuzung eilten. Zuhause angekommen erzählten Anna, Justine und Stefanie von dem, was sie erlebt hatten. Doch ihre Eltern reagierten merkwürdig.
„Das Haus steht doch schon immer leer."
„Was wolltet ihr dort überhaupt?"
„Wer war Natalie nochmal?"
Die Freundinnen kannten Natalie seit dem Kindergarten und ihre Eltern hatten sich auch mit ihren Eltern sehr gut verstanden. Warum sollten sie sie einfach so vergessen?
Nicht nur Annas, Justines und Stefanies Eltern erinnerten sich nicht mehr an Natalie und ihre Familie, sondern auch ihre Lehrer und Mitschüler hatten keinerlei Erinnerungen an sie. Nur die drei Freundinnen wussten noch, wer Natalie war.
Natalie war eine gute Freundin gewesen. Hilfsbereit, zuvorkommend und freundlich. Sie war ein kleiner Sonnenschein mit komischen Vorlieben gewesen. Sie hatte eine Vorliebe für die „Addams Familiy", alte Goth- und Punkmusik und Gemüse, dass laut Justine verboten werden sollte, gehabt. Sie hatte es geliebt in den Wald zu gehen und war fasziniert von allem dunklen und makaberen gewesen. Einmal wollte sie ihre Freundinnen davon überzeugen, einen Ritus mit ihnen durchzuführen, der Dämonen beschwören sollte. Ein anderes Mal wollte sie ihren drei Freundinnen die Zukunft auslegen, mithilfe von Tarot Karten. „Wo hast du die her?" hatte Anna verstört gefragt. Natalie hatte nichts geantwortet, nur verschwörerisch gelächelt. Später hatten die Freundinnen herausgefunden, dass Natalies Eltern ihr die Tarot Karten ausversehen gekauft hatten, da sie dachten es seien ganz normale Spielkarten.
Trotz ihrer Vorliebe für die dunkle Seite des Lebens, waren ihre Lieblingsbücher „Harry Potter" und „Percy Jackson" gewesen. In jedem 2. Satz waren Einflüsse aus diesen Buchreihen zu erkennen gewesen. Sie hatte einen Schrein mit „Harry Potter"-Merch in ihrem Zimmer gehabt. Er war gespickt mit Schals, Ketten und Bildern von den Schauspielern. Genau dort, in Mitten des organisierten Chaos, hatten die „Harry Potter"-Filme gestanden. Sie hatte zwar die Bücher zuerst gelesen, hatte sie jedoch nie besessen, sondern nur die Filme. Ein zweiter Schrein war für die „Percy Jackson"-Bücher aufgebaut worden, denn die hatte sie alle gehabt. Sie hatte die Farbe Blau aufgrund der Bücher geliebt und wollte ihre rosa- gestrichenen Wände, blau streichen. Das hatten ihre Eltern jedoch nie erlaubt.
Sie hatte das Meer geliebt, was auch den „Percy Jackson"-Büchern geschuldet war und Sonnenuntergänge. Fast jeden Sommer hatte sie mit ihrer Familie am Meer verbracht. Allgemein hatte sie es genossen mit ihrer Familie zu verreisen und neue Kulturen kennenzulernen. Besonders hatte sie von Irland geschwärmt. Den Landschaften, den besonderen Orten und wie magisch es sich dort anfühlt hatte.
„Später", hatte sie immer gesagt, „wenn ich groß bin, werde ich nach Irland ziehen." Danach hatte sie immer in sich hinein gelächelt. Man wusste immer, wann sie an Irland dachte. Denn dann war sie ruhig und in sich gekehrt und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen.
Aber es waren auch die kleinen Dinge gewesen, die Natalie so besonders machten.
Zum Beispiel musste sie immer „Natalie ohne ‚H'" sagen und das so oft, dass ihr Nachname auch „ohne ‚H'" hätte sein können. Natalie ohne ‚H', auch bekannt als „Native" aufgrund eines Missverständnisses der Autokorrektur, war eine Träumerin. Wenn sie im Bus saß und der Landschaft vor dem Fenster stumm folgte, wusste man sie war nicht wirklich anwesend. Entweder träumte sie von realen Orten, wie die Küste von England, die grünen Landschaften von Irland oder die geheimnisvollen Orte der Bretagne. Oder sie träumte von entfernten Fantasiewelten, wie Mittelerde, Narnia oder von der Zauberschule auf die Harry Potter und seine Freunde gegangen sind: Hogwarts. Sie lebte in ihrer eigenen kleinen Welt und jeder war ein Teil von ihr.
Aber wie jeder Mensch, machte sie Fehler. Oft immer und immer wieder denselben. Das brachte häufig viele ihrer Lehrer zur Weißglut. Wie zum Beispiel damals im Kindergarten, als Natalie zum wiederholten Mal die Fische mit dem falschen Futter gefüttert hatte und sie dafür von der Erzieherin ordentlich ausgeschimpft wurde. Natalie hatte aber keineswegs den Fischen etwas Böses gewollt. Sie hatte lediglich die falsche Dose genommen, die genauso aussah, wie die Richtige. Zu diesem Zeitpunkt hatte die kleine Natalie noch nicht das Lesen gelernt und wurde kurz nach dem Vorfall mit Kurzsichtigkeit diagnostiziert. Sie würde heute eine Brille mit schwarzen Rändern tragen und wahrscheinlich die Flaschen immer noch vertauschen.
Außerdem war sie eine Heulsuse. Sie versuchte meistens die Tränen zu unterdrücken, aber wenn sie einen Fehler machte und deswegen ausgeschimpft wurde, schossen ihr sofort Tränen in die Augen. Ihre Grundschullehrerin sagte einmal, dass Natalie sehr nah am Wasser gebaut war und wenn es passierte, der Damm dann bricht. Damals, mit 6 Jahren, verstanden die Freundinnen das nicht, heute wussten sie, was ihre Lehrerin meinte.
Doch wenn man sich zu lange am Negativen aufhält, vergisst man schnell die positiven Dinge und man sagt ja, man soll die Verschwundenen nur im Guten in Erinnerung behalten. Und das taten Anna, Justine und Stefanie. Jedes Jahr am 23. April feierten sie Natalies Geburtstag und erinnerten sich an ihre Freundin, an all die schönen Momente, die sie mit ihr teilten. An diesem Tag dachten sie darüber nach, wie sie verschwinden konnte und warum sich keiner an sie erinnerte. Von Jahr zu Jahr wurden die Theorien immer surrealer und nach vier Jahren waren sie zu dem Schluss gekommen, dass es nur noch diese Theorien waren, die Sinn ergaben. Sie spekulierten, dass Natalie von Aliens entführt wurde oder im Wald verloren ging und so zu einer Hexe kam, die sie essen wollte. Ihre Lieblingstheorie war jedoch, dass Natalie beim Versuch einen Dämon zu beschwören, Satan persönlich rief und er sie und ihre Familie zur Strafe mit in die Hölle nahm. Natürlich brachte sie keine der Theorien weit.
Und so hatten es sich die Freundinnen zur Aufgabe gemacht, ihre Freundin wiederzufinden, egal was es kostete. Denn sie waren überzeugt, dass es Natalie noch immer gab.

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Das verlorene Königreich - Das gebrochene Herz
FantasyDas ist die überarbeitete Version von "Das verlorene Königreich". Wenn ihr Lust habt, schaut doch mal vorbei :)) . "Die Mädchen sahen sich das Portrait im Vorbeigehen an. Die Königin war wunderschön. Lange blonde Haare, blassblaue Augen, helle Haut...