Kapitel 9 "Der Eremit II"

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Es war nun eine Woche her, dass Anna, Justine und Stefanie ihre Freundin in dem magischen Land gefunden hatten. In dieser Woche hatten die Mädchen das Schloss erkundet, sie kannten nun jeden kleinen und noch so magischen Winkel. Bis auf den Keller oder die Gruft, wie sie es nannten. Sie waren in der folgenden Nacht mit Natalie, Jonas und Joshua noch einmal zu dem Portrait gegangen und hatten nach weiteren versteckten Räumen gesucht. Doch nachdem sie eine weiße Gestalt in den dunklen Gängen gesehen hatten, waren sie von ihrem Entdeckerdrang geheilt.
„Das war bestimmt ein Geist." sagte Stefanie, nachdem sie die Treppen hochgerannt waren und völlig außer Atem im Meeresgang standen. Jonas wäre Joshua beinahe auf den Arm gesprungen, als er den Geist sah. Und Joshua hatte sich an Jonas und Natalie geklammert, wie ein Klammeräffchen. Ihre Schreie hatten sicher die Bewohner des Schlosses aufgeweckt.
„Ich glaube, das war's für heute mit Geisterjagen." sagte Natalie, immer noch außer Atem. Alle anderen stimmten ihr zu.
Die vier Mädchen ritten auch noch einmal zu der Ruine. Doch die Dämonen waren immer noch da und ließen niemanden zu der Ruine durch.
Anna, Justine und Stefanie durften Natalie zu wichtigen Treffen begleiten. Natürlich mussten sie ruhig und ernst bleiben. Sie begleiteten Natalie ins Nachbarkönigreich, das Königreich der Drachen. Es war nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatten. Es war mehr rot und golden als Elysion.

Elysion lag an der Küste, welche sie ebenfalls besuchten und einen wunderschönen Tag am Strand hatten. Jonas wurde zum Schirmträger degradiert und stand stumm neben unseren Sachen. Er sah nicht besonders begeistert aus. Anna, Justine und Stefanie bauten friedlich eine Sandburg, während Natalie und Joshua im Wasser herumalberten. Natalie hatte vorher alle mit einem Zauber gegen Sonnenbrand belegt. Irgendwann gesellte sie sich zu Jonas. Die Mädchen beobachteten nur, wie Natalie ihn versuchte aufzumuntern. Er stand nur neben ihr und schaute abwechselnd auf sein Shirt und in den Sand. Dann schlich sich Joshua von hinten an ihn heran und leerte einen von ihren Wassereimern über ihm aus. Jonas stand einen Moment perplex da. Natalie versuchte sich das Lachen zu verkneifen. Er drehte sich betont langsam zu Joshua um, dieser grinste schief. Jonas funkelte ihn an. Natalie rief: „Lauf!"

Mit diesen Worten begann Joshua davon zu rennen. Jonas folgte ihm. Sie jagten sich über den halben Strand, bis Jonas Joshua in den Rücken trat und ihn somit zu Fall brachte. Joshua flehte um sein Leben. Als sie sich beruhigt hatten, zog Jonas genervt sein Oberteil aus und schlug es Joshua gespielt um die Ohren. Bei dem Gefecht bekamen die Mädchen ein paar Spritzer von Jonas nassem Shirt ab. Natalie beobachtete die beiden nur und kriegte sich vor Lachen nicht mehr ein. Ihre Freundinnen gesellten sich zu ihr.

„Ich hätte nicht gedacht, dass Jonas unter seiner Rüstung so gut aussieht." sagte Anna und beobachte Jonas.

„Und tätowiert ist." fügte Justine hinzu. „Ich meine, dass Joshua Tattoos hat, war uns klar, aber Jonas?"

Natalie zuckte mit den Schultern. „Das ist auch neu für mich."

Dann fügte sie schnell hinzu: „Das mit den Tattoos."

Als die Sonne schon untergegangen war, machten sie sich auf den Weg zurück zum Palast.

Der Palast von Elysion sah aus, als wäre er aus einem Unterwassermärchen, während der Palast des Drachenkönigreichs eher wie aus Stein gehauen aussah. Er thronte auf der Spitze eines Felsens und die Mauern gingen in diesen Felsen nahtlos über. Der König war ein Jahr älter als sie, erklärte Natalie auf dem Weg. Sein Name war Janris, aber Natalie nannten ihn Jason, da sie seinen Namen, bei ihrem ersten Treffen falsch verstanden hatte. Der Tag bei den Drachen, war ziemlich langweilig, da sie nur dasaßen und politischen Gesprächen zwischen den Herrschern nicht folgen konnten. Charles musste sie ein paar Mal, vorm Einschlafen retten. Aber neben langweiligen politischen Besuchen, unternahmen die Mädchen zusammen mit Natalie magische Ausflüge zu den Feen, Zwergen und einer Taipir-Farm. Taipire waren große, pferdeartige Wesen, die man reiten konnte. Das taten sie und es war lustig. Jonas wurde beinahe von einem Taipir abgeworfen. Dafür wurde er von Joshua und Natalie ausgelacht.
Sie durften auch das Allerheiligste von Heris besuchen. Kàrdiá, das Herz von Heris, Quelle der Magie. Es war in einem hohen Turm eingeschlossen. Nur die Priesterinnen hatten Zutritt zum eigentlichen Herzen. Das Arnum Gard, das Tal des Wissens, beschützte Kàrdiá. Die, die dort lebten, wurden die verlorenen Kinder oder die ewigen Kinder genannt. Denn es wurde gesagt, dass einige Kinder, eines Tages einfach verschwunden waren und hier aufgetaucht waren. Seit dem Altern die, die dort geboren wurden, langsamer als normale Menschen und bewachen Kàrdiá.
Aber nach dieser Woche, bemerkten die Mädchen trauriger Weise, dass sie nicht länger bleiben konnten, sie mussten zurück in ihre Welt. Schweren Herzens verabschiedeten sich Anna, Stefanie und Justine von Natalie. Sie versprachen, nachdem sie ihren Abschluss hatten, sie zu besuchen und länger zu bleiben als nur eine Woche. Sie schritten durch das Portal, welches Natalie für sie geöffnet hatte. Wieder überkam sie dieses Gefühl, das sie das erste Mal schon gespürt hatten, das Gefühl Zuckerwatte im Kopf zu haben, die alles verklebte und verschwommen machte. Als sie wieder bei Sinnen waren, erkannten sie, wo sie dieses Mal herausgelassen wurden. Es war der Parkplatz vor dem Club, vor dem sie das Ritual vollzogen hatten, um nach Heris zu kommen. Aber Annas Auto war nicht mehr da und ihre Sachen waren ebenfalls verschwunden.

Natalie irrte ziellos durch die Gänge in dieser Nacht. Ihr Nachthemd war, zu ihrem Verdruss, weiß. Sie hätte gerne ein Schwarzes gehabt, aber Charles sagte immer, das wäre „unköniglich". Natalie schärte sich nicht darum. Wäre es nach ihr gegangen, besäße sie nur schwarzen Kleider, anstatt einen ganzen Regenbogen. Sie fand es unfair, dass ihre Mutter Schwarz tragen durfte, sie aber selbst nicht. In farbigen Kleidern fühlte sie sich immer etwas unwohl. Aber sie konnte sich nicht gegen die königliche Etikette wehren. Die Lichter waren bereits gelöscht worden. Sie hatte Jonas seine Taschenlampe stibitzt und schwenkte den Lichtstrahl lustlos hin und her. Natalie ging gerade den Herrschergang entlang. Während sie sie dem Gang folgte, leuchtete sie die Portraits der Könige und Königinnen an. Sie betrachtete sie zum tausendsten Mal und erinnerte sich daran, wie sie vor vier Jahren, die Portraits das erste Mal angesehen hatte. Damals war sie von den großen Gemälden eingeschüchtert, sie waren zudem hoch an der Wand aufgehangen, sodass man nach oben schauen musste und sich noch kleiner fühlte. Außerdem wurde dadurch das Gefühl von Ehrfurcht erzeugt.
Natalie betrachtete das erste Portrait. König Aicalla. Der erste König von Elysion und Gründer. Seine grünen Augen sahen sanft auf den Betrachter hinab. Sein dunkler Teint glänzte und wurde von seiner meerblauen Robe schön betont. Er stützte sich auf das Schwert Cor Meum. Natalie besaß dieses Schwert ebenfalls. Sie suchte nach Aicallas Symbol in seinem Portrait. Sie entdeckte den Würfel im Vordergrund auf einem Tisch. Das Symbol für Vollkommenheit und das Göttliche. Natalie schwenkte den Schein der Taschenlampe auf das nächste Portrait. Sein Sohn, König Siunas. Er wurde auch Sanguis genannt, was Nachkomme bedeutete. Er sah seinem Vater nicht im Geringsten ähnlich. Seine Haut war heller als die seines Vaters. Seine Augen waren braun, das rechte hatte jedoch einen rötlichen Schimmer. Seine Züge waren sanft, aber sein Kinn war kantig und sein Kiefer war spitz. Die braune Robe schimmerte rot und er hielt sein Symbol in einer Hand, in der anderen das Schwert. Der Diamant in seiner Hand glitzerte in allen Regenbogenfarben. Er stand für Unverletzlichkeit. Natalie betrachtete ihn noch eine Weile. Viele aus dem Haus Aicalla hatten entweder blonde Haare oder schwarze. Sie fragte sich, woher das blonde kam und warum so gut wie alle in ihrer Familie helle Haut hatten. Sie dachte gerade daran, dass sie in Biologie besser hätte aufpassen sollen, als sie Vererbung dran hatten, da hörte sie ein Geräusch hinter sich. Es hörte sich an, wie ein Flüstern. Sie leuchtete in die Richtung, aus dem das Flüstern kam. Dort war jedoch nichts. Auch nicht die weiße Gestalt aus der Gruft. Sie tat es ab, als eine Halluzination. Natalie war daran gewöhnt, Geräusche bei Nacht zu hören, da sie in einem alten Haus aufgewachsen war. Und alte Häuser machten viele eigenartige Geräusche. Natalie glaubte auch nicht an Geister, jedenfalls nicht so, dass sie böse und rachsüchtig seien, sondern eher verlorene, traurige Seelen, die ihren Weg ins Jenseits nicht finden können. Natalie machte sich wieder auf den Weg zu ihrem Zimmer im Turm. Manchmal fühlte sie sich wie Rapunzel oder eine andere Prinzessin, die in einem hohen Turm eingesperrt wurde. Als sie an der Zimmertür ankam, saß Jonas zusammengesackt an der Wand. Wenn man ihn aus dem Augenwinkel sah, könnte man meinen, er sei ein Sack Kartoffeln. Er war eingeschlafen. Friedlich hatte er sich an der Lanze abgestützt und schniefte vor sich hin. War das, was Jonas in der Hand hatte überhaupt eine Lanze oder eine Hellebarde? Natalie kannte den Unterschied nicht, ihr Vater hätte ihn ihr sicher erklären können. Als Natalie die Tür zu ihrem Zimmer leise öffnete, fiel Jonas die Hellebarde-Lanze klirrend aus der Hand. Das weckte Jonas auf. Verwirrt schaute er sich um. Dann stand er prompt auf, als hätte er nicht gerade geschlafen.
„Ausgeschlafen?" scherzte Natalie. Jonas verdrehte die Augen.
„Ich geh dann mal schlafen." sagte sie und ging in ihr Zimmer.
„Warte!" Jonas hielt die Tür auf, bevor Natalie sie schließen konnte. „Wo warst du?" fragte er besorgt.
„Ich kann nicht schlafen." antwortete Natalie, zog Jonas in ihr Zimmer und schloss die Tür.
„Und Joshua hilft mir nicht wirklich beim Einschlafen." sie deutete auf ihr Bett, wo Joshua schnarchend schlief. Er hatte fast das ganze Bett in Beschlag genommen.
„Und dieses Gemälde geht mir nicht mehr aus dem Kopf."
Jonas nickte verständnisvoll. „Mir auch nicht."
„Warum sollte man es dort unten aufbewahren?"
„Keine Ahnung, vielleicht fragst du morgen Charles. Er weiß vielleicht etwas darüber, er ist ja schon sehr, sehr, sehr lange hier."
Natalie nickte müde. „Ich sollte jetzt schlafen gehen."
Jonas nickte. „Und ich sollte wieder vor die Tür."
Natalie lachte. „Dann geh vor die Tür." sie warf theatralisch die Hände in die Luft und rief dramatisch: „Geh, ich brauche dich nicht mehr. Geh und werde glücklich mit dieser anderen Frau."
Jonas kicherte und antwortete ebenso dramatisch: „Das werde ich. Und ich werde nie wieder auch nur an dich denken."
Joshua atmete plötzlich auf und warf sich auf die andere Seite. Jonas und Natalie sahen ihn lachend an.
„Gute Nacht, Prinzessin." sagte er und umarmte sie. Sie nahm die Umarmung dankbar an.
„Gute Nacht."
Natalie lag noch ein paar Minuten wach. In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken wild und ungeordnet umher. Die Stimmen wurden so laut und ohrenbetäubend, dass sie dachte, ihr Kopf explodiere gleich. Sie sah Joshua an, der neben ihr schlief. Sanft strich sie ihm über die Wange. Er brabbelte als Antwort „Streuselkuchen mit Vanilleeis" zufrieden vor sich hin. Natalie lächelte liebevoll und kuschelte sich an ihn ran. Nach wenigen Minuten wurde auch sie ins Land der Träume geschickt.

Das verlorene Königreich - Das gebrochene HerzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt