Kapitel 6 "Die Sonne"

31 3 26
                                    

Die Mädchen wurden von der Sonne geweckt, die durch das Fenster schien. Sie warf ihr warmes Licht auf die vier Mädchen, die nebeneinander eingeschlafen waren. Anna war die Erste, die sich aufrappelte und somit Stefanie weckte, die halb auf ihr geschlafen hatte.
„Was ist los? Was hab ich verpasst?" sagte sie schläfrig. Das grelle Licht der Sonne blendete sie. Schützend hielt sie sich die Hand vor die Augen.
„Noch gar nichts." erwiderte Anna, die sich ausgiebig streckte. Sie deutete mit einem Nicken auf Justine und Natalie die noch seelenruhig schliefen. Natalies Kopf lag auf Justines Schulter und Justine hatte ihren Kopf auf Natalies gelegt.
„Wie süß." flüsterte Stefanie leise.

„Wie in der Grundschule, als wir in der Schule geschlafen haben." pflichtete Anna ihr bei. Die Beiden beobachteten sie noch eine Weile, dann sah Stefanie Anna verschwörerisch an und die zwei Mädchen nickten sich zu. Es war als hätten sie im Alleingang vor, den größten Komplott zu vollziehen, den sie je geplant hatten. Sie schnappten sich jeder ein Kissen und schlichen sich an die schlafenden Freundinnen an. Langsam hoben sie die Kissen an und holten zum ultimativen, weckenden Schlag aus. Die Kissen trafen Justine und Natalie mitten ins Gesicht.
„Was zum...?" benommen und schlaftrunken rappelten sich die beiden Mädchen auf.
„Was soll das?" fragte Natalie verwirrt und strich sich ihre Haare aus dem Gesicht.
„Wir wollten euch wecken." antwortete Stefanie lachend. Anna brach in schallendes Gelächter aus.
„Ihr hättet euer Gesicht sehen sollen!"
Prompt traf sie ein Kissen. Natalie lächelte sie zuckersüß an. „Ups."
„Ach, so spielen also eure Hoheit." erwiderte Anna frech und warf das Kissen erneut nach Natalie. Diesmal verfehlte es sie jedoch, da Natalie sich duckte. Es traf stattdessen Justine, die nicht besonders erfreut darüber war.
„Ups." lachte Anna. Justine warf ebenfalls das Kissen nach ihr, traf aber Stefanie.
„Hey!" protestierte diese. Die Mädchen sahen sich lachend an, schnappten sich ein Kissen und fielen übereinander her, wie eine Horde kleiner Mädchen auf einer Geburtstagsparty.
Charles, der gerade den Gang entlang lief, hörte das Gelächter der Mädchen und klopfte höfflich an der Tür. Als er das Zimmer betrat standen die Mädchen mitten im Raum. Sie versuchten nicht zu lachen und so zu tun, als ob sie gerade keine Kissenschlacht veranstaltet hatten. Charles sah sie misstrauisch an.
„Guten Morgen, Ladys."
„Guten Morgen, Charles." sagten sie fast gleichzeitig und versuchten unschuldig zu klingen.
„Es gibt Frühstück im Speisesaal, eure Hoheit. Sie dürfen aber ihre Gäste mitbringen." Mit diesen Worten machte er sich wieder auf den Weg.
„Oh, ja Frühstück." sagte Stefanie aufgeregt. Die Mädchen hatten einen Bärenhunger. Natalie lachte und wies ihre Freundinnen an, ihr zu folgen. Sie folgten ihr durch den Gang und gingen dann durch die letzte Tür. Dahinter lag eine Küche, in der die Köche und Köchinnen eifrig Speisen zubereiteten. Natalie grüßte alle freundlich und sie grüßten zurück. Anna, Stefanie und Justine wollten stehen bleiben und schauen was gerade im Ofen so köstlich duftete, doch Natalie zog sie schnell weiter. Sie durchquerten die Küche. Natalie öffnete eine weitere Tür und zog ihre Freundinnen in den Speisesaal. Dieser war in Gold- und leichte Rottöne getaucht. Die Sonne schien durch zahllose Fenster an der Ostseite der Wand und tauchte den Raum in ein warmes Morgenlicht.
„Wie viele große Räume gibt es im Palast?" fragte Anna misstrauisch.
„Nur drei." antwortete Natalie. „Über uns befindet sich der Größte. Der Ballsaal."
„Zeigst du uns den noch?" Stefanie sah Natalie mit großen braunen bettelnden Augen an.
„Ja, na klar. Aber erstmal essen wir."
Stefanie gab einen triumphierenden Laut von sich.
„Was gibt es denn?" fragte Justine neugierig.
„Meerjungfraueneintopf mit Greifenschenkeln in Einhornblut." sagte Natalie. Ihre Freundinnen sahen sie geschockt an.
„...Brot?" fragte Justine verzweifelt. Natalie sah sie ernst an, dann lachte sie und schüttelte ihren Kopf.
„Das war nur Spaß."
Die drei Mädchen atmeten erleichtert aus. „Ich hatte schon Angst."
Ein Speisewagen kam angerollt. Er war beladen mit allerlei Leckereien. Frisches Brot und Brötchen, Wurst, Käse, Marmelade und Früchte sahen außerordentlich lecker aus. Sie setzten sich an eine Tafel, die dekoriert mit Blumen und Kerzenständern war. Die Teller und das Besteck waren aus Silber. Eine Teekanne schwebte über den Tassen der Mädchen und schenkte ihnen frischen Tee ein. Beeindruckt von all den magischen Dingen die sie umgaben, konnten sich die Mädchen nicht wirklich auf das Frühstück konzentrieren. Sie löcherten Natalie mit Fragen, als sei sie eine Suchmaschine. Geduldig beantwortete Natalie all ihre Fragen. Die Mädchen wollten mehr über die Ida-Felder wissen, die sie schon zweimal durchquert hatten. Natalie erzählte ihnen, dass diese Felder ein Schlachtfeld waren. Viel Blut wurde dort vergossen. Viele Soldaten mussten ihr Leben dort lassen. Ob es Kriege zwischen Königreichen war oder Bürgerkriege, viele waren dort sinnlos gestorben. Es war aber auch Schauplatz vieler Legenden von Elysion. Natalie deutete an die Decke, wo wie in der Sixtinischen Kapelle Szenen in neutralen, erdigen und Pastelltönen dargestellt waren. Fasziniert schauten die drei Mädchen an die Decke.
„Die Legende von Elys und dem Riesen spielt in den Ida-Feldern."
„Ja, ich hasse sie." Joshua tauchte unerwartet hinter Natalie auf. Verwirrt schauten die Mädchen Joshua an, der Natalie zur Begrüßung von hinten umarmte.
„Warum?" fragte Anna.
„Weil der Riese in der Legende böse ist und von Elys in den Ida-Feldern getötet wird."
Anna nickte, doch schaute ihn immer noch verwirrt an.
„Das Königreich der Riesen ist unser Nachbarkönigreich und unser größter Verbündeter." erklärte Natalie, während sie in ihren Rühreiern rumstocherte. Joshua lachte kurz. Er war nicht der einzige der das Wortspiel entdeckt hatte. Die Mädchen mussten ebenfalls schmunzeln.
„Aber warum hasst du die Legende?" fragte Justine und sprach Joshua direkt an.
„Weil ich zufälliger Weise ein Riese bin." antwortete dieser, während er sich einen Berg von Rühreiern auf den Teller hob.
„Ach so, okay." Eine Weile war es ruhig und alle aßen still ihr Frühstück. Dann fragte Stefanie, wo Natalies Familie sei.
„Irgendwo im Schloss wahrscheinlich." antwortete diese mit einem Schulterzucken.
„Haben sie hier auch einen richtigen Job?" fragte Justine.
„Ja, so was ähnliches. Meine Mutter ist sowas wie die Bildungsbeauftragte im Königreich und mein Vater hilft ihr bei ihren Aufgaben."
„Cool, also gibt es hier auch Schulen?" hakte Anna nach. Natalie nickte.
„Dort lernt man ähnliches wie bei uns, plus Magie."
„Macht Sinn."
Am Nachmittag machten die Mädchen einen Ausflug. Anna, Stefanie und Justine mussten sich am Vormittag langweilige Vorträge von Charles über Handelswege anhören, nachdem sie sich Gewaschen und Sachen von Natalie ausleihen durften. Leider keines ihrer schönen Prinzessinnenkleider. Natalie wollte ihren Freundinnen das Königreich zeigen, nachdem sie ihre Aufgaben als Königin beendet hatte. Als sie ihre Freundinnen abholte, trug sie ein einfaches hellblaues Kleid. Im Gegensatz zu dem, was sie am Morgen getragen hatte, war das eher schlicht. Keine Perlen oder fein gearbeitete Spitze säumten es. Stattdessen waren die Ärmel des Kleides mit schimmernden Fäden gearbeitet. Eine kleine Krone war in ihre Haare eingeflochten. Und sie trug ihre Brille. Eine mit leichtem Gestell und filigran gestalteten Bügeln.

Das verlorene Königreich - Das gebrochene HerzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt