Kapitel 4 "Tod"

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Die Wände sahen aus, als würden sie den Ozean zurückhalten. Kunst aus Korallen und Perlen schmückte den Gang. Die Mädchen fragten sich wo das natürliche Licht herkam, denn sie sahen nirgends eine Kerze oder ein Licht brennen. Dennoch war es taghell im Palast. Eine Weile irrten sie durch die Gänge, die alle aussahen, als würden sie auf dem Grund des Meeresbodens laufen. Da waren Fische, die ihnen bekannt vorkamen und Wesen, die sie noch nie zuvor gesehen hatten. Sie hatten Flügel aus Schuppen und Finnen aus Federn. Justine glaubte sogar eine Meerjungfrau zu sehen und das vertraute Geräusch vom Rauschen des Meeres hallte durch die Gänge des Schlosses. Es roch nach Salz und der Boden unter ihren Füßen fühlte sich wie Sand an. Völlig überwältigt gingen die Mädchen die Gänge entlang und genossen das Gefühl am Strand zu sein. Sie waren vor 6 Jahren zusammen mit Natalie in einem Ferienlager am Meer gewesen. Sie erinnerten sich an den Spaß, den sie mit ihr hatten. Sie tollten durch Dünen und spielten im Wasser. Es war als hörten sie ihre Stimme in der Ferne. Tatsächlich hallte eine Stimme durch die Gänge und riss die Mädchen aus ihren Gedanken. Ein Mann kam auf sie zu. Er trug einen kastanienbraunen Frack und hatte seine ebenso braunen Haare elegant nach hinten gekämmt.
„Kann ich euch helfen, Ladys?" fragte er höflich und deutete eine leichte Verbeugung an.
„Ähh..." machte Anna. Justine und Stefanie waren ebenso perplex. Vor ihnen stand einer der Begleiter der Königin. Er räusperte sich und wiederholte freundlich seine Frage.
„Ja!" Stefanie war die erste, die sich aus ihrem Schock befreite.
„Wir suchen nach unserer Freundin."
„Habt ihr gesehen, wie sie in den Palast gegangen ist?" fragte der Mann.
„Äh, nein." erwiderte Anna. „Wir sind aus Mondos und ein Ritual hat uns hergebracht. Deswegen glauben wir, dass unsere verschwundene Freundin hier ist. Wir wollten die Königin um Hilfe bitten."
Er sah die Mädchen stirnrunzelnd an.
„Ihr seid aus Mondos?" wiederholte er. Die Mädchen nickten. Justine reichte ihm das Foto. In diesem Moment, als er seinen Blick auf das Bild richtete, wechselte seine bisher beruhigte Miene zu puren Schock. Die Mädchen sahen sich verwirrt an. Er musterte das Bild eine Weile lang, als müsste er seine Fassung wiederfinden, nachdem er einen Fehler begangen hatte.
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?" fragte Stefanie besorgt. Er richtete seinen Blick wieder auf die Mädchen. Seine Miene war wieder beruhigt.
„Ja, alles bestens. Entschuldigung, ich habe mich euch noch nicht vorgestellt. Meine Name ist Charles und ich bin der erste Minister und Berater der Königin." Er verbeugte sich tief vor den Mädchen.
„Oh, freut uns sehr." Die Mädchen machten verlegen einen schiefen Knicks und stellten sich ihm vor.
„Freut mich, euch kennenzulernen." begrüßte Charles die Mädchen freundlich. „Ich weiß wo eure Freundin ist."
Aufgeregt sahen sich die Mädchen an. Endlich würden sie ihre Freundin wiedersehen. Ihre Herzen machten Freudensprünge. Am liebsten wären sie sich in die Arme gefallen und hätten Charles in ihre Gruppenumarmung mit hineingezogen. Aber sie behielten ihre Freude für sich und stattdessen folgten sie Charles. Sie gingen dahin zurück, wo sie hereingekommen waren und folgten dem Gang in der anderen Richtung. Dieser Gang sah anders aus, als der den die Freundinnen gegangen waren. Es erinnerte sie an die Schlösser, die sie mit ihrer Klasse besucht hatten. An den Wänden hingen Portraits von Königinnen, Königen und deren Familien. Büsten und Rüstungen schmückten die himmelblauen Wände. Während sie Charles folgten, zeigte dieser auf die Herrscherportraits und sagte: „Das sind die vergangen Herrscher und Herrscherinnen von Elysion. Wie in der englischen Monarchie haben wir auch in Elysion verschiedene Königshäuser."
„Warte, woher..." Justine schaute ihre Freundinnen verwirrt an und wollte Charles fragen, woher er das mit den englischen Königshäusern wusste, doch Charles fuhr unberührt fort.
„Unsere vorherige Königin war die Adoptivtochter des Hauses Merkhain. Und unsere jetzige, frisch gekrönte Königin ist eine Nachfahrin des ältesten Königshauses von Elysion. Das Königshaus Aicalla, benannt nach dem ersten König von Elysion. Zu eurer rechten seht ihr ihr Herrscherportrait."
Die Mädchen sahen sich das Portrait im Vorbeigehen an. Die Königin war wunderschön. Lange blonde Haare, blassblaue Augen, helle Haut. Sie trug ein blaues Kleid, geschmückt mit Perlen und Edelsteinen. Sie stützte sich auf ein Schwert und lächelte ihre Betrachter freundlich an. Sie erinnerte die Mädchen an jemanden. Etwas in ihrem Lächeln war so vertraut und doch so fremd. Wieder dachten sie, Natalies Stimme zu hören. Sie lachte. Ausgelassen. Beinahe wären die Mädchen in Charles hineingelaufen, da er so abrupt stehen blieb. Sie waren an einer riesigen Tür aus Holz angekommen. In die Tür waren Muster geschnitzt, die Drachen, Feen und andere Wesen darstellten.
„Ihr betretet nun den Audienzsaal der Königin." kündigte Charles an und schob die großen, schweren Türen auf. Dahinter befand sich ein Raum, der in Weiß und Silber erstrahlte. Es war als würde der Saal vom silbernen Licht eines Vollmondes erhellt werden. Der Boden war wie aus Glas. Doch wenn man hinunter sah, sah man nicht den Boden, sondern sich selbst.
„Wow." machte Stefanie, nachdem sie den Fehler gemacht hatte, hinunter zu schauen.
An der Wand gegenüber der Tür war der Thron. Ein Thron aus Glas, gesetzt auf ein Podium aus purem Silber. Er funkelte wie ein Kristall im Mondlicht.

Warte, gab es nicht eine Buchreihe, die so hieß? fragte sich Justine, als sie den Thron aus Glas sah. Alles strahlte und man spürte die Magie. Doch da war etwas, dass nicht wirklich zu der Atmosphäre des Audienzsaals passte. Und das war die Königin. Sie hatte ihre Beine über die Lehne des Throns gelegt und ließ sie baumeln. Ihr weißes Kleid war zerknüllt und unordentlich. Die Krone hing schief auf ihrem Kopf und ihre Frisur hatte sich beinahe aufgelöst. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass jemand den Saal betreten hatte. Ausgelassen unterhielt sie sich mit ihren anderen zwei Begleitern. Der Größere von ihnen hatte einen Arm locker auf die Lehne gelegt. Der andere stand daneben und belächelte die beiden. Die Mädchen hatten sich diese Szene so nicht vorgestellt. Sie dachten, die Königin wäre älter, erfahrener und würde sich verhalten, wie eine Königin und nicht wie ein eigensinniger Teenager. Perplex beobachteten sie die komische Truppe, bis Charles sich räusperte und so die Aufmerksamkeit der Königin auf sie zog. Prompt rappelte sich die Königin auf, richtete ihre Krone, strich ihr Kleid glatt und setzte sich gerade hin. Sie faltete elegant ihre Hände im Schoß und lächelte sie freundlich an. Der Große mit den grünen Haaren musste sich das Lachen verkneifen. Wofür er sich von dem Anderen einen bösen Blick einhandelte. Charles wies die Mädchen an, sich zu verbeugen. Die Drei machten einen schiefen Knicks für die Königin, die sich anstrengen musste, nicht laut los zu lachen.
„Diese Mädchen kommen aus Mondos und haben eine Bitte an euch, eure Hoheit." sagte Charles und sah die Mädchen ermutigend an.
„Ja, genau." machte Anna und räusperte sich leise. „Wir sind auf der Suche nach unserer Freundin. Wir glauben sie ist hier. Deswegen wollten wir sie bitten, uns zu helfen."
Die Königin sah die Mädchen stirnrunzelnd an. Stefanie runzelte ebenfalls die Stirn. Hatte Charles nicht gesagt, er wüsste, wo Natalie sei?
„Wir haben auch ein Foto von ihr dabei..." sagte Justine und suchte es in ihren Taschen, fand es aber nicht. Charles hatte es in der Hand und war schon auf dem Weg zum Thron, um es der Königin zu zeigen. Er stieg die Stufen zum Thron hinauf und reichte der jungen Königin das Bild mit einer eleganten Handbewegung. Sie nahm es entgegen und betrachtete es. Dann sah sie genauer hin. Sie schnappte hörbar nach Luft und stieß ein „Nein!" aus. 

Das verlorene Königreich - Das gebrochene HerzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt