Kapitel 10 "Der Hierophant"

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„Der verlorene Sohn! Der verlorene Sohn ist zurückgekehrt!" Alle Glocken der Stadt läuteten. Neugierig spähte Natalie aus dem Fenster ihres Turmzimmers. Sie hang schon die ganze Zeit über der Recherche zur Geschichte der Königshäuser. Ihr Schreibtisch, der direkt unter dem Fenster stand, quoll förmlich über mit Büchern und Schriftrollen. Seufzend sah sie zu Jonas hinunter, der auf dem Boden saß und Kekse aß. Eines der Bücher lag aufgeschlagen vor ihm, man sah ihm jedoch an, dass er nur auf die Seiten starrte und nicht las.
„Wer ist der verlorene Sohn?" fragte Natalie Jonas neugierig. Dieser sah auf.
„Ich glaub der Prinz vom Sagig Munger. Wieso?"
„Er ist zurückgekehrt." Natalie zuckte die Schultern. Jonas nickte langsam.
„Warum heißt er ‚der verlorene Sohn'?"
Er zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, er ist als Kind abgehauen, weil seine Eltern umgebracht wurden."
Natalie wusste nicht, was sie dazu noch sagen sollte.
Plötzlich änderte sich der Traum. Wie eine Welle ging er in die nächsten Szenen über. Natalie lernte Joshua gerade kennen. Er war zwei Jahre älter als sie, somit 18. Er hatte gefärbte Haare und Piercings. Normaler Weise würde sie sich von ihm fernhalten. Aber Joshua redete mit ihr, als sei sie nicht die Prinzessin und zukünftige Thronfolgerin. Es gefiel ihr. Sie konnten über ihre Lieblingsbands, -bücher und andere Sachen reden, die es in Heris nicht gab. Darüber freundeten sie sich an.
Die nächste Welle kam und nun stand Natalie mitten im königlichen Rosengarten. Jonas stand ihr gegenüber. Er sah sie traurig an. Natalie weinte. Es war der Moment, als er mit ihr Schluss machte. Es war auch der Moment, indem er ihr sagte, dass er gehen würde. Wohin, wusste sie nicht und das sagte er auch nicht. Natalie erinnerte sich, dass sie die gesamte Woche nur geweint hatte. Joshua brachte ihr Schokolade und versuchte sie mit seinen „My Chemical Romance" Platten aufzumuntern. Er kannte Jonas und mochte ihn, aber nur als Freund und nicht im romantischen Sinne.

Der Traum endete abrupt mit Natalie und Jonas, der zurückgekehrt war. Natalie erkannte ihn nicht. Warum war er gegangen?
Sie öffnete die Augen und versuchte den Traum zu verarbeiten. Es war wahr, dass er als Jonas zurückkehrte und Natalie ihn erst nicht erkannte, aber sie war froh ihn wiederzusehen. Sie mochte ihn davor und sie mochte ihn danach, aber nicht mehr so, wie sie es gerne wollte. Oder das vermutete sie zumindest. Warum war er nochmal gegangen? Es lag ihr auf der Zunge und doch war der Gedanke so weit entfernt, dass sie ihn nicht erreichen konnte. Je mehr sie über den Traum nachdachte, desto mehr verblasste er. Sie sah zu Joshua. Dieser schlief noch. Natalie weckte ihn, indem sie ihm über die Wange strich. Seine Bartstoppeln kratzten. Natalie betrachtete ihn amüsiert. Sie zog verspielt an seinem Ohrläppchen, an seinem rechten Ohr, dort wo er keinen Tunnel hatte. Er reagierte zunächst nicht, doch als Natalie ihm durch die Haare fuhr und an einzelnen Strähnen zog, protestierte er verschlafen.
„Guten Morgen." sagte Natalie belustigt.
„Guten Morgen." wiederholte Joshua und gähnte. „Bist du schon lange wach?"
Natalie schüttelte den Kopf.
„Dann können wir ja noch liegen bleiben."
„Nein, ich muss los. Ab morgen hat Charles Urlaub und er hat viel für mich vorbereitet. Ich sollte rechtzeitig anfangen." Natalie wollte aufstehen, doch Joshua schlang seine starken Arme um ihre Hüften und zog sie zurück ins Bett. „Du bist so eine Spielverderberin." flüsterte er ihr in Ohr. Natalie kicherte. „Hör auf."
„Wieso sollte ich?" er küsste liebevoll ihren Hals. Natalie drehte sich zu ihm und küsste ihn. Er erwiderte den Kuss. Eine Weile lagen sie engumschlungen im Bett. Natalie erzählte Joshua von ihrem Traum, doch verschwieg ihm ihre letzten Gedanken dazu. Joshua erzählte ihr, dass er von seinen Lieblingsessen geträumt hatte. In seinem Traum waren Natalie, Jonas und er in Mondos in einer Eisdiele Eis essen. Natalie wünschte, das könnten sie tun. Sie träumte immer noch von Irland und Frankreich, von Urlaub mit ihrer Familie. Aber eine Königin durfte keinen Urlaub machen. Jedenfalls keinen langen.
Natalie stand schließlich auf und machte sich fertig für den Tag. Joshua musste heute zurück in sein Königreich. Seine Krönung stand an. Sie verabschiedete sich von ihm und begann mit ihren Aufgaben. Doch sie konnte sich auf nichts konzentrieren. Immer wieder drifteten ihre Gedanken ab. Sie dachte an ihre Freundinnen und an ihren Fund in der Gruft, die Ruine und die zwei Dämonen. Was hatte das alles zu bedeuten? Die weiße Frau, schoss es ihr dann durch den Kopf. Der Geist war auch noch etwas, was sie nicht erklären konnte. Natalie beschloss Charles einen Brief zu schreiben, indem sie alles erklärte. Er konnte ihn lesen, wenn er in London war und in Ruhe antworten. Vielleicht wusste er, wer der Geist war und was es mit dem Portrait und der Ruine auf sich hatte. Es vergingen Stunden, in denen Natalie alles genauestens, in ihrem Brief an Charles, schilderte. Jonas kam am Nachmittag zu ihr ins Zimmer. Natalie schrieb immer noch den Brief.
„Viel zu tun?" fragte er. Natalie nickte nur. Angestrengt dachte sie nach, ob sie etwas vergaß.
„Willst du was essen?"
„Ja, das wäre schön."
Jonas verließ das Zimmer, um wenige Minuten später mit einem Tablet zurück zu kehren. Er stellte es auf den Nachttisch. Natalie sammelte alle Seiten des Briefes zusammen, unterschrieb ihn, tat ihn in einen Umschlag und verschloss ihn mit einem königlichen Siegel. Dann schrieb sie Charles vollen Namen in großen geschwungenen Buchstaben auf die Rückseite. Charles Porter. Obwohl Charles ihr schon tausend Mal gesagt hatte, sie solle seinen geänderten, „neuen" Nachnamen benutzen, tat sie das nicht. Sie mochte seinen alten Namen. Dennoch schrieb sie unter den Namen, in kleineren Buchstaben: „Reist auch unter dem Synonym Charles Bloodworth." Dann versiegelte sie ihn mit dem königlichen Wachssiegel.
Natalie legte den Brief zufrieden zur Seite und gesellte sich zu Jonas, der auf dem Boden saß und Kekse aß.
„Ist Joshua schon weg?" fragte er.
„Ja, ich soll dir schöne Grüße von ihm ausrichten."
„Schade, dass ich mich von ihm nicht verabschieden konnte."
„Du siehst ihn doch Übermorgen wieder."
Jonas lachte. „Die Krönung ist morgen."
„Nein, übermorgen."
„Nein, morgen. Hast du die Zeit vergessen?"
Natalie sah ihn geschockt an. „Aber Charles ist noch da, oder?"
Jonas schüttelte den Kopf. „Du hast dich gestern von ihm verabschiedet."
Natalie fiel der Keks aus der Hand. „Shit. Wie soll ich ihm den Brief jetzt geben?"
„Probiere doch einfach den Transportzauber aus, den du geübt hast."
Natalie überlegte kurz. Dann nahm sie den Brief in beide Hände und murmelte die Zauberformel vor sich hin. Es klappte. Der Brief löste sich vor ihren Augen in Luft auf.
„Ihre Post wurde erfolgreich versandt und kam sicher bei, füge Namen hier ein, an." sagte Jonas in einer roboterartigen Stimme. Natalie lachte und genoss den Rest ihrer Pause mit Jonas.

Anna, Justine und Stefanie hatten ein Problem. Ein großes Problem. Auf dem Weg nach Hause überlegten sie, wie sie ihren Eltern ihr plötzliches Verschwinden erklären sollten. Sie legten sich ihre Lügen sorgfältig zurecht. Doch als sie in ihrem Heimatort ankamen, standen Polizeiautos vor Justines Haus.
„Oh nein." machte Anna.
„Sie haben die Polizei gerufen." sagte Stefanie ausdruckslos. Justine rannte zu ihren Eltern und ihre Freundinnen folgten ihr. Als Justines Eltern, die sich gerade mit den Polizisten unterhielten, auf sie zu rennen sahen, sah man ihnen den großen Stein, der ihnen vom Herzen fiel, an. Sie schlossen Justine glücklich in ihre Arme. Auch Annas und Stefanies Eltern waren dort. Erleichtert umarmten sie ihre Töchter.
„Wo wart ihr?" fragten ihre Eltern. Sie saßen auf der Couch im Wohnzimmer. Die Polizisten standen immer noch im Türrahmen. Justine holte tief Luft und bereitete sich für die Lüge vor.
„Wir waren in einem magischen Land." geschockt über ihre eigenen Worte sah sie ihre Freundinnen an. Diese waren genauso geschockt. Bevor Anna Justines Aussage richtigstellen konnte, platzte Justine mit der nächsten Wahrheit heraus.
„Es ist eine magische Dimension. Sie heißt Heris. Wir haben dort Natalie gefunden und viele magische Sachen erlebt." Justine hielt sich die Hand vor den Mund.
„Alles in Ordnung, Schatz?" fragte ihre Mutter besorgt. Justine presste ihre Hand fester gegen ihren Mund, um nichts mehr zu sagen. Anna lachte nervös.
„Nein, sie ist erschöpft. Hört nicht auf das, was sie sagt." Justine berührte Anna leicht, um ihr Mut zu machen. „Aber sie hat recht." Anna sah Stefanie geschockt an. Diese hielt lieber gleich den Mund.
„Vielleicht sollten sie sich erstmal ausruhen." schlug einer der Polizisten vor. Plötzlich brach Justine in Tränen aus. „Was ist hier los? Warum kann ich nicht mehr lügen?" brachte sie unter Tränen heraus. Angestrengt raufte sie sich die braunen Locken. „Was geht hier vor?"
„Sie sind erschöpft.", Justines Mutter stand auf, „Sie sollten sich erstmal ausruhen." Sie nickte Annas und Stefanies Eltern zu. Diese nahmen Anna und Stefanie in den Arm. Diese waren nun stumm und ließen alles über sich ergehen.
Die folgenden Tage verbrachten die Mädchen in ihren Betten und grübelten über den Vorfall. Von der Schule waren sie befreit. So hatten sie viel Zeit darüber nachzudenken. Aber so sehr sie sich anstrengten, sie konnten sich keinen Reim darauf machen. Währenddessen machten sich ihre Eltern Sorgen um sie. Die Mädchen wollten nicht mit ihnen reden. Sie dachten, sie wollten vielleicht mit jemand anderen reden. Deswegen schickten sie die Mädchen eines Tages zu einem Psychiater, der mit ihnen zusammen reden sollte. Auf dem Weg dorthin sagte keines der Mädchen auch nur ein Wort. Sie waren stumm, aus Angst, wieder das Falsche zu sagen.

Das verlorene Königreich - Das gebrochene HerzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt