- 1 -

11.2K 436 17
                                    

Das junge Mädchen saß nun schon seit Stunden auf ihrem Lieblingsplatz vor dem großen Fenster und beobachtete die Menschen außerhalb der Glasfassade.

Ein junger Mann stieg auf seinem Motorrad und fuhr in gleicher Minute weg. Zwei Schritte entfernt saß ein alter Mann und redete mit dem kleinen Mädchen auf seinem Schoß. Auf der anderen Bank saß ein Pärchen. Der Junge nahm das Mädchen unter seinen Armen und streichelte ihre Schulter.

Diese Szene ließ ein Zittern durch ihren ganzen Körper.

Sie schloss fest ihre Augen und versuchte all die Erinnerungen an diesen Tag zu verdrängen. Aber wie immer wurde sie von diesen Flashbacks überhäuft. Sie drückte ihre Nägel auf ihre Handfläche und versuchte bis zehn zu zählen, genauso wie ihre Psychologin es ihr beriet. Nein, nein, nichts. Einfach überhaupt nichts half. Sie verfluchte jede einzelne Sekunde diesen Tag.

Wieso? Das fragte sie sich jeden Tag. Wieso? Verdammt noch mal. Wieso? Sie war doch da erst 14 Jahre alt. Ein unschuldiges 14 jähriges Mädchen, das auf ihrem Heimweg war. Unwillkürlich floss eine Träne aus ihrem linken Auge, die sie gleich wieder wegwischte.

''Zarina, das Essen ist fertig, wir warten auf dich'', schrie ihre Mutter. Sie atmete tief aus und bedankte sich innerlich bei ihrer Mutter, dass sie, sie aus diesem schrecklichen Flashback zurückholte.

Als sie sich zum Tisch setzte, schaute sie lächelnd jeden einzelnen für einen kurzen Moment an und zauberte ihnen ein Lächeln ins Gesicht. Das tat sie jeden Tag, denn sie wusste, dass alle auf eine Reaktion von ihr warteten. Ihr älterer Bruder fühlte mit ihr, aber er konnte es einfach nicht wahr haben, dass ihr Schweigen auch für ihn galt. Deshalb versuchte sie wenigstens mit ihren kleinen Taten sie glücklich zu machen.

Es war ihr bewusst, dass sie nicht das Recht dazu hatte ihre Familie mit der Stille zu bestrafen. Doch sie muss jeden Tag, jede Minute und jede verfluchte Sekunde in ihrem Kopf mit der Vergangenheit klarkommen. Sie versucht die grauslichen Gelächter zu verdauen, die Schmerzen die sie erleiden musste zu vergessen oder ihre hoffnungslosen Hilfeschreie aus ihrem Gedächtnis auszulöschen. Da hat sie nicht mehr die Kraft für ihre Gegenwart etwas zu vollbringen.

Während dem Essen wirft sie einen kurzen Blick auf die Uhr und merkt, dass sie schon spät dran ist. Eilig trinkt sie noch ihren Kirschensanft aus. Ihre Familie sieht nur leise zu wie sie aufsteht und das Zimmer verlässt.

Sie waren schon daran gewöhnt, dass sie jeden Tag um die selbe Uhrzeit das Haus verlies. Nachdem schrecklichen Vorfall sperrte sie sich im Zimmer ein und redete kein Wort, sie kam nicht einmal zum Essen raus. Doch wie durch ein Wunder verließ sie eines Tages unbemerkt das Zimmer ohne etwas zu sagen. Und so ging es vier Jahre lang weiter. Ihre Familie war einfach nur glücklich, dass sie raus ging.

Sie hatten öfters vor, ihr zu folgen um zu wissen wohin sie ging. Doch ihre Angst hielt sie auf. Was wäre, wenn sie, sie bemerkt und dann nie wieder mehr das Haus verlässt? So schwiegen sie. Ihre Mutter saß stundenlang vor dem Fenster und zitterte bis sie wieder zurückkam- und sie kam auch wirklich jedes Mal zurück.

Es war für keinen leicht. Die Jahre vergingen, doch der Schmerz und die Sorgen blieben gleich.

Von all diesen Gedanken bewusst , zog Zarina ihre Jacke an, wickelt sich ihren Schal um, ließ ihre hellbraunen Haare offen und setzte zuletzt noch ihre gestrickte Haube auf. Anschließend steckt sie noch die Kopfhörer in ihre Ohren und macht sich auf dem Weg.

Musik... Es war eine Art Flucht für sie, indem sie die Befreiung fand. Musik ist auch eins der wenigen Dinge, das sie von ihrem früheren Leben noch bei ihr hatte. Früher war es ihre Lieblingsbeschäftigung zu singen, doch jetzt ist sie nicht diejenige, die die Noten liest, sondern die, die sich darin verliert.

Mit schnellen Schritten ging sie durch die schmale Straßen entlang. Obwohl sie es sich selber nicht zugeben konnte, hatte sie immer noch Angstgefühle, wenn sie draußen unterwegs war. Trotzdem vernachlässigte sie kein einziges Mal das Waisenhaus. Jeden Tag ging sie dorthin. Sie wusste selber nicht wie sie dazu kam, aber nach einem qualvollen Jahr entschied sie eines Tages etwas gegen ihren Schmerz zu unternehmen.

Wenn sie mit Kindern beschäftigt war, die es viel schlimmer hatten als sie, vergaß sie ihren Zustand und ihre Identität. Als wäre sie noch immer das unschuldige vierzehn jährige Mädchen.

Vertieft in den Gedanken, dauerte es lang bis sie bemerkte, dass sie die falsche Route nahm. Sie erblickte die Gegend und ein Zittern übergriff ihren Körper. Mit Zitterten Händen nahm sie die Kopfhörer aus ihren Ohren raus und sah sich langsam um.

Sie ballte ihre Hände zur Faust und atmete tief ein und aus. Nein, sie wollte sich nicht an diesem Tag erinnern, sie sollte es nicht. Wie konnte sie doch so unachtsam sein. Sie schloss ihre Augen, doch öffnete sie wieder, nachdem die grausliche Szene wieder und wieder einmal vor ihren Augen kam.

Sie drückte ihre Nägel auf ihrer Handfläche und versuchte sich einzureden, dass alles gut wird. Wie konnte etwas gut werden, wenn es doch so zerstört war. Eine gebrochene Vase konnte man nicht wieder reparieren, weder die Vase würde wie beim Alten sein, noch würde man verhindern, es mit anderen Augen zu sehen.

Vor ihr waren zwei Wege. Diesmal entschied sie sich für den rechten. Und ging laufend auf diese zu.

Zur gleichen Zeit fuhr ein Auto mit 100 km/h auf sie zu. Nur paar Millimeter vor ihrem Körper blieb es stehen.

Sie schloss fest ihre Augen zu.

Mirzan. Zur gleichen Zeit fuhr der junge Mann genervt die Straße entlang und verfluchte noch einmal sein Handy. Wieso musste sein Akku leerlaufen. Jetzt war er verloren. Er musterte nochmal die Gegend und suchte nach bekannten Straßennamen. Wieso setzte man überhaupt ein Meeting mitten im Nirgendwo. Er atmete tief aus und schloss paar Sekunden seine Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er ein Mädchen auf die Straße laufen, aus Reflex ging sein Fuß auf die Bremse. Nur paar Millimeter vor ihr konnte er das Auto stoppen. Er atmete tief aus und drehte mit vor Wut dunkel gewordenen Augen seine Blicke zu dem Mädchen, die zugleich ihre Augen öffnete.

Als sich ihre Augen trafen, blieb er wie erstarrt. Er konnte seine Augen nicht von ihr nehmen. Er konnte ihre Augen nicht von dieser Weite entziffern. Waren die grün oder braun? Unter der Jacke und der Haube sah sie wie ein kleines Kind aus, aber ihr Gesicht verneinte diese Aussage.

Er blieb weitere Sekunden reaktionslos, doch endlich kam er zu sich und stieg zornig aus dem Auto.

‚,Wieso achtest du nicht auf den Weg!'', schrie er sie an und blieb vor ihr stehen. Er konnte seine Augen nicht von ihrer weg drehen. Selbst von dieser Entfernung sahen sie unentzifferbar aus. Vor seinen Worten waren sie noch grün, aber nachdem er sein Satz beendete, transformierten sie sich in hellbraun. Er zog seine Augenbrauen zusammen, er hasste etwas undefiniertes.

Doch sie schwieg - wie immer.

Dies hielt ihn nicht auf, sondern brachte ihn noch mehr zum Schreien. Doch er bekam keine Reaktion.

‚,Wieso antwortest du nicht, verdammt nochmal!''

Noch immer Schweigen.

Er atmete tief aus und wartete auf eine Antwort, doch die kam noch immer nicht. Als er einen Schritt zu ihr bewegte, ging sie plötzlich zwei Schritte zurück. Es machte ihr Sorgen allein mit einen Typen zu sein, es war keiner in weiter Sicht. Wieder fiel ihr dieser Tag ein. Sie schloss fest ihre Augen und fing plötzlich an zu rennen, so schnell sie auch nur konnte. So, dass sie es nicht an dem Tag konnte, so als könnte sie von ihren Sorgen wegrennen, So .. So schnell.

Mirzan sah ihr nur verwirrt nach. Sie gab keine Reaktion ab, als er sie anschrie und vielleicht auch beschimpfte. Doch nur ein Schritt reichte aus, sie in Aktion zu setzen. Unwillkürlich zog er seine Augenbrauen noch mehr zusammen.

FtsAysl

#Unschuld

Unschuld - Serie 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt