1. Aufruhr

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"For of all sad words of tongue or pen, the saddest are these, 'It might have been'"- John Greenleaf Whittier

Träume von der Realität zu unterscheiden, dürfte für die allermeisten eine recht simple Angelegenheit sein. Im Traum wirkte alles zu merkwürdig, falsch und die verrücktesten Dinge geschahen aus dem Nichts heraus in ihnen. Obwohl viele den Unterschied dennoch erkennen konnten, so war es schwer im Traum selbst zu realisieren, dass man nur schlief, obwohl es doch so eindeutig sein müsste.

Das waren aber keine weltbewegenden Probleme, es waren die Dinge, die eben zum Leben dazugehörten. Nein, das wirkliche Problem war es, wenn man Träume und Realität nicht unterscheiden konnte, nicht einmal im wachen Zustand, denn dann wurde es wirklich gefährlich.

Ich saß im Englischunterricht und hatte Schwierigkeiten bei dem Vortrag der Lehrerin über die Literatur im 19. Jahrhundert wirklich zuzuhören, musste mir ständig die Schläfen reiben von den wirren Dingen, die ich erst letzte Nacht mal wieder geträumt hatte.

Dass ich eigenartige Sachen sah, wenn ich schlief, das wusste ich, und auch wenn ich anfangs dachte, es lag am Umzug und der ganzen neuen Welt, so musste ich mir nun, drei Monate später, eingestehen, dass ich wohl eher das Problem war. Klar war ich das Problem. Ich war 18, hatte vor paar Monaten erfahren, dass meine Eltern mir mein ganzes Leben lang vorenthalten hatten, ich sei eine Wächterin, und durfte nun mit besonderen Fähigkeiten mein Leben leben. Ich hatte erfahren dürfen, dass alle Religionen der Welt wahr waren, dass man in der Zeit reisen konnte, es Feen und Elben und so vieles mehr an Wesen gab. Es war enorm viel, das ich in kurzer Zeit in Erfahrung bringen konnte, doch das Seltsamste war für mich wohl nach wie vor den Schrecken, den ich nachts immerzu sah.

Ich sah wenigstens nicht mehr ständig den Irrgarten, der sich im Garten meiner Großeltern befand. Das Problem war viel eher, dass die Träume dafür so realistisch geworden sind, dass ich im Nachhinein wirklich manchmal Zweifel hatte, ob es Träume oder nicht doch seltsame Erinnerungen waren.

Vermutlich war das nur ein weiteres Anzeichen, dass mit meinem Kopf etwas nicht stimmte und ich dringend zum Arzt müsste, aber jeder Arzt der Welt würde mich für völlig gestört halten mit dem, was ich zu berichten hatte.

Würde ich einem Arzt von den Wächtern berichten – Leuten mit magischen Kräften –, dass alle Götter, an die man nur denken konnte, real waren, ja, ich würde definitiv in die Geschlossene Anstalt eingeliefert werden.

„Wenn sie nicht bald still ist, dann sterbe ich", murrte Harper neben mir, die halb am Einschlafen war, und ich schenkte ihr ein mitleidiges Lächeln, doch mir erging es ja kaum anders. Der Unterricht war sterbenslangweilig, vor allem, wenn Weihnachten praktisch vor der Türe stand, fing die Motivation in der Schule an gewaltig zu sinken.

„Ich weiß nicht einmal, um was es gerade geht", gestand ich leise. Ich hatte wirklich keine Ahnung, um was es hierbei genau ging, konnte nur hoffen, dass es nicht allzu wichtig werden würde, denn meine Noten waren wirklich nicht schön. Ich würde meinen Abschluss mit miserablen Ergebnissen machen und niemals einen Job finden.

Ich wagte es einen Blick auf meine andere Seite zu werfen, dort, wo Hayden friedlich auf seinem Platz vor sich hindöste, das Gesicht verzogen von seinem Arm, den er als Kopfkissen benutzte, und den Mund leicht geöffnet.

Augenblicklich musste ich lächeln, so friedlich und putzig sah er in diesem Zustand aus.

Ja, Daisy und Hayden waren mir wirklich ans Herz gewachsen. In den drei Monaten hatte ich so viel Zeit mit ihnen verbracht, es war, als ob sie immer schon Teil meines Lebens gewesen wären, und ich glaube nur, wenn Elin noch da wäre, wäre es perfekt, dann wäre ich vermutlich wirklich, wahrhaftig glücklich.

Avenoir| Band 2 [18+] ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt