14. Unterwelt

886 48 4
                                    

"Never say goodbye, because saying goodbye means going away, and going away means forgetting." - Peter Pan

Es war Sonntag und der Tag, bevor die Schule wieder nach den Ferien beginnen würde. Ich dachte die ganze Zeit daran, dass ich morgen das Schulgebäude das erste Mal mit dem Wissen betreten würde, dass Hayden nie wieder hier sein würde. Ich dachte daran, dass ich die Starke von nun an sein müsste, die, die sich um Daisy kümmert, die Dawsons tausend Fragen irgendwie beantwortet, die verloren im Unterricht sitzen würden mit den Gedanken bei dem Jungen mit den unordentlichen Haaren und dem Nasenring, der jeden Moment sterben könnte. Ich wusste nicht, wie ich diese neue, starke Rolle schaffen sollte, wie ich es hinkriegen sollte, doch ich würde es, egal wie schwer es auch sein würde.

Ich schlief kaum mehr vor Sorgen, fühlte mich richtig krank, ausgezehrt, erschöpft und war froh, dass so gut wie jeder aus meiner Familie heute außer Haus war, einzig Lilien da war, die sich jedoch im Teezimmer eingesperrt hatte und Gott weiß was dort oben tat. Mir war es egal, solange sie mich in Frieden lassen würde.

Ich saß vor der Glastüre, die in den Garten führte, auf dem Boden, sah zum Schnee hinaus und dachte daran, wie ich auf der nun vom Schnee bedeckten Wiese damals Hayden getroffen hatte, gleich am Anfang, als wir uns erst angefreundet hatten. Ich dachte daran, wie er mir Mut gegeben hatte vor meiner Bindung mit Reed. Es war merkwürdig, wie viel in dieser Zeit geschehen war, wie verbunden ich mich zu ihnen allen hier fühlte und das obwohl ich erst seit vier Monaten da war, sie alle gar nicht so lange kannte, doch es war so vieles passiert, wir hatten so vieles überstanden, man fühlte sich vertrauter zueinander.

Ich seufzte schwer, wusste nichts mit mir anzufangen, könnte meine Gedanken vielleicht mit Lernen und Hausarbeiten ablenken, nur es würde vermutlich sowieso nicht funktionieren und wirklich Lust auf irgendwas dergleichen hatte ich auch nicht.

Dari war mit meinen Eltern unterwegs und Acyn und Riley waren im Quartier, während meine Großeltern Cameron zwangen, mit ihnen einen Spaziergang zu machen. Ich kam mir einsam vor, war versucht Elin anzurufen, aber was würde es schon bringen? Bevor Hayden nicht wieder wohlauf ist, würde es mir nicht besser gehen und das wird vermutlich niemals geschehen. Ich hatte mich mit dieser Tatsache abzufinden, doch ich wusste, dass die Akzeptanz, wenn es um den Tod ging, eine Sache war, auf die man lange warten konnte. Der Tod würde uns alle früher oder später holen und doch wollte man so sehr mit ihm verhandeln, noch länger bleiben dürfen, das Leben nicht aufgeben. Hayden lebte seit über 300 Jahren und dennoch stand er immer noch erst am Anfang. Seine Zeit verlief eben anders als die von normalen Menschen, konnte man es dann überhaupt miteinander vergleichen? Ich bezweifelte es. Es war ein wenig, als würde man Hundejahre mit denen von Menschen vergleichen. Für einen Hund waren 12 Jahre ein ganzes Leben, für einen Menschen war es nur ein kleiner Teil davon.

Ein Klingeln an der Türe ließ mich aufhorchen. Verwundert Besuch zu haben, erhob ich mich und lief zur Haustüre, öffnete sie und wurde schon von Daisy zur Seite gedrängt, die mit Sam im Schlepptau eintrat, den kalten Januarwind mit ins Haus brachte.

„Hallo euch", sagte ich überrascht, wo die Blondine aufgelöst sich die Stiefel auszog, halb dabei zu Boden fiel, während Sam die Türe schloss.

„Sie wollte unbedingt hierher", erklärte er und ich war dennoch verwirrt, was war los? Wieso waren die zwei überhaupt zusammen unterwegs? Sonst hatten sie sicher nichts je miteinander zu tun gehabt, außer vielleicht auf dem Ball, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie nun plötzlich Freunde waren.

„Wieso? Was ist los?", fragte ich, während er sich nun auch die Schuhe und die Jacke auszog, Daisy sich an meinen Arm derweil krallte, mich aus ihren großen, blauen Augen ganz aufgeregt und irgendwie nervös ansah. Sie hatte definitiv genauso wenig Schlaf finden können wie ich, so fertig wie sie aussah, so durcheinander und aufgebracht.

Avenoir| Band 2 [18+] ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt