28. Fallende Schleier

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"The things of the night cannot be explained in the day, because they do not then exist." — Ernest Hemingway

Es war Samstag und da ich sonst nichts Besseres im Moment zu tun hatte, hatte ich meinen Bruder zum Quartier begleitet, wo dieser heute Unterricht haben würde. Derweil würde ich mir im Dorf die Beine vertreten, würde raus aus dem Haus kommen. Ich verließ dieses zurzeit nur noch für die Schule. Zum einen, weil ich sowieso nirgends hindurfte und zum anderen, weil ich gar nicht irgendwohin gehen wollte. Ich wurde immer noch gejagt und ich hatte wahrlich genug Ärger und Drama gehabt.

Ich hatte meinen Eltern versprechen müssen, in der Nähe von Wachen zu bleiben, keine verlassenen Wege zu nutzen, wachsam zu bleiben und das Dorf nicht zu sehr zu verlassen. Es bestand eben immer noch die Gefahr, dass irgendwelche Märtyrer mich entführen wollten, doch ich war es mittlerweile so gewohnt, dass irgendwer mir schaden wollte, es erschreckte und besorgte mich weniger als es das sollte. Seltsam, dass etwas so Krankes so normal für einen werden konnte. Seit ich in London war, war mein Leben in keiner Weise mehr normal.

Offenbar hatte Warren meinen Eltern nichts darüber gesagt, wie ich wirklich meine Verletzung bekommen hatte. Ich war ihm dafür mehr als nur dankbar. So dachten sie zwar, dass mich irgendein Verrückter Märtyrer womöglich aus dem Hinterhalt heraus in einem abgelegenen Weg erstochen hatte, aber es war besser, sie wären besorgt um mich als wütend, weil ich so dumm war.

Die Sonne schien recht kräftig für Anfang Februar und so schlenderte ich gemütlich einfach wahllos durch die Gegend, trug meinen Mantel offen und war froh draußen in der Natur zu sein. Es war nicht gerade viel los hier, wieso wusste ich nicht zu sagen, doch das hieß immerhin, dass mich weniger Leute anstarren würden. Vermutlich spürten die Leute wirklich die Veränderung in der Luft. Es war ein dunkles Jahr, viele schlimme Dinge geschahen, sicher wollten die Leute fern von diesem Chaos bleiben, sich in Sicherheit wiegen.

Ich hatte mich etwas gefürchtet hier im Quartier Warren oder Mr Spencer zu sehen, nachdem ich gestern so das Weite gesucht hatte. Das Glück hatte jedoch auf meiner Seite gestanden, so dass ich niemandem begegnete, nicht einmal Mrs Flores, die ich nun kaum mehr zu Gesicht bekam. Sie fehlte mir, sie war anscheinend sehr fertig wegen allem, was mit Daisy war und ich verstand sie zu gut in der Angelegenheit. Sie war zu gut für uns alle, die arme Frau. Sie sah uns jüngeren Wächter wie Kinder an und jemanden wie Daisy zu verlieren, muss schwer an ihr nagen, erinnerte sie vielleicht ja an Malia und wie es damals mit ihr gewesen war.

Es nagte an jedem von uns.

Nasrin war derzeit nicht im Quartier, so dass ich sie nicht besuchen konnte, und ich grübelte während meines Spazierganges etwas über das junge Mädchen nach und wie lange sie wohl noch warten müsste auf einen Partner. Ich war gleichzeitig froh, dass es ihr gerade gut genug ging, dass sie mal daheim sein konnte, ohne Probleme.

Meine Gedanken wurden schnell gestört, als ich nicht weit von mir Arnold sah. Ich stockte in meiner Bewegung, als ich den dürren Mann sah, der heimlich für Reed arbeitete, den ich nicht bei Warren verpetzte hatte und dem ich nur leider dennoch kein Stück traute. Ich wusste nicht, wie sehr ich es bereuen sollte, niemandem über ihn oder seiner Partnerin Palina Bescheid gesagt zu haben, dass sie Verräter waren, doch beide wirkten so unscheinbar, ich stand im Zwiespalt. Ich wollte nicht, dass sie meinetwegen ins Gefängnis müssten, gleichzeitig würden sie es für ihren Verrat vermutlich verdienen, aber tat ich das dann nicht auch? Ich war eine Verräterin. Ich hatte Reed oft genug getroffen, ohne wem was zu sagen, ich war kaum besser, wenn nicht sogar schlimmer, immerhin hatte Arnold keinen Sex mit Reed... zumindest hoffte ich es mal.

Er sah mich nicht, lief geradewegs in einen Laden hinein und ich wollte umdrehen, einen anderen Weg einschlagen, um ihm nicht am Ende doch irgendwie zu begegnen, stieß dabei jedoch fast mit einer älteren Dame zusammen.

Avenoir| Band 2 [18+] ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt