23. Reeds Sicht Teil 1

904 45 17
                                    

"I'll be here just waiting and hoping for every long dream of you to come true." — F. Scott Fitzgerald

Reed

Sie sah aus wie ein Engel. Wie mein persönlicher Engel lag sie in ihrer vollen Schönheit neben mir. Ihr helles Haar sah aus wie ein Heiligenschein, ihre blauen Augen ähnelten einem stürmischen Ozean und das Lächeln auf ihren vollen Lippen galt nur mir. Es war mein Lächeln.

„Ich träume, nicht wahr?", flüsterte ich leise. Ich hatte Angst, sie würde verschwinden, wenn meine Stimme zu laut wäre. Ich hatte Angst aufzuwachen, wenn ich die stille, friedliche Atmosphäre mit lauten Geräuschen zerstöre.

Ihre Hand berührte mein Gesicht, aber ich konnte die Berührung nicht spüren, egal wie sehr ich es auch wollte, es war, als ob nur ein Schatten neben mir liegt, als ob sie gar nicht wirklich hier wäre.

„Sei nicht traurig", bat sie mich ebenso leise und ihr Lächeln nahm ab, als ob meine Trauer sie unglücklich stimmen würde.

„Ich vermisse dich so schrecklich. Wie könnte ich nicht traurig sein?"
„Aber ich bin doch da." Sie lächelte nur wieder, wenn auch unglücklich.

„Nicht wirklich. Du bist da und doch bist du es nicht... aber ich bringe dich zurück. Ich verspreche es dir. Ich bringe dich zurück und dann wird alles wieder gut werden."

„Wirst du mich dann wieder verlassen?", fragte sie mich und ich sah, wie ihre Haut blasser wurde, ihre Lippen sich bläulich verfärbten.

„Nein! Ich würde dich niemals verlassen!"
„Das hast du damals auch gesagt." Tränen kullerten über ihr Gesicht und ich wollte ihr diese wegwischen, aber ich konnte sie nicht berühren. Ich konnte nicht für sie da sein, ich konnte ihr einfach nicht helfen.

„Nein, es tut mir leid. Grace, es tut mir leid, es tut mir alles so schrecklich leid." Sie löste sich vor meinen Augen auf und ich konnte nur ihren Namen schreien, auf ein Wunder hoffen, das sie zu mir zurückbringen würde und das einfach nicht kommen wollte.

Schwer atmend wachte ich allein in meinem Bett auf und sah mich einen Moment suchend im beleuchteten Zimmer um. Ich war allein. Natürlich war ich allein. Ich war immer allein. Vielleicht war ich dazu verdammt, allein zu sein.

Ich zog mir mein verschwitztes Oberteil aus, warf es achtlos zu Boden und schloss kurz wieder die Augen. Ich würde noch durchdrehen. Diese Träume würden noch mein Ende sein, aber ich verdiente es, von ihnen gefoltert zu werden. Ich konnte nur Frieden finden, wenn sie bei mir war. Als ich mir damals mit Alice ein Bett geteilt hatte, war alles gut gewesen. Sofort war es so, als ob die Albträume nie existiert hätten, doch kaum war sie wieder fort, sah ich nur das Elend der Vergangenheit, dann wurde ich von meinen Fehlern heimgesucht.

Es klopfte an der Türe, aber ich machte mir nicht die Mühe, mich aufzurichten oder meine Augen zu öffnen.

„Komm rein." Ich wusste sowieso, wer es sein würde.

„Du hast wieder geschrien", sagte Palina leise. Sie kam jeden Morgen ins Zimmer, wenn sie mich schreien hörte. Sie sorgte sich um mich, was unnötig war. Mir war nicht mehr zu helfen. „War es wieder Grace oder war es was anderes?"
„Ich habe sie gesehen, als ob sie direkt neben mir liegen würde", murmelte ich und streckte meine Hand über die leere Seite des Bettes neben mir, als ob ich sie vielleicht doch fühlen könnte, aber keiner war da, keiner war je da gewesen.

„Du solltest anfangen, die Tabletten zu nehmen. Wenn du nicht bald mehr Schlaf bekommst, wird das alles gefährden. Müde bist du zu nichts zu gebrauchen. Wir brauchen deinen klaren Verstand, Reed."
„Keine Tabletten. Ich verdiene es zu leiden." Ich setzte mich aufrecht hin und sah Palina an, die selbst nicht viel an Schlaf gefunden hat. Sie trug zumindest keinen Schlafanzug und wie üblich lagen tiefe Schatten unter ihren Augen.

Avenoir| Band 2 [18+] ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt