Aufmerksam starrte mich Nathan an, nachdem der ältere Mann unsere leeren Teller wieder abgeräumt hatte.
„Erzählst du mir jetzt, wieso du aus Edinburgh weggezogen bist?", er sah mir tief in die Augen, als wolle er die Wahrheit aus mir herausziehen. Ich räusperte mich kurz. „Also gut." Ich atmete tief ein und begann, meine Geschichte zu erzählen.
„Eigentlich ist es die typische Cinderella - Geschichte. Meine Eltern sind gestorben als ich noch ganz klein war und ich dann kam ich ziemlich schnell in eine Pflegefamilie. Allerdings waren meine Pflegeeltern nicht sonderlich... liebevoll.", ich zuckte mit den Schultern und verdrängte den Schmerz der seelischen Verletzungen, welche sie angerichtet hatten.
„An meinem 18 Geburtstag bin ich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einfach abgehauen. Geld für einen Flug hatte ich nicht, aber ich wollte so weit weg wie möglich." Ich spürte, wie sich mein Hals verengte und sich Tränen nach oben kämpften. „Sie haben mir nie etwas über meine Eltern erzählt, egal wie oft ich gefragt habe. Sie waren schrecklich. Streng, herrschsüchtig, böse.", sagte ich leise und ließ den Kopf sinken. Ich wollte nicht, dass er sah, wie traurig ich war. Ich wollte für ihn nicht das kleine, gebrochene Mädchen sein, welches ihm bei dem ersten Date von seiner schweren Kindheit erzählte und dann auch noch weinte. Er bewegte sich nicht. Stille legte sich um uns herum und fühlte sich drückend an.
Doch dann überraschte er mich. Vorsichtig berührt er mich am Unterarm. Mit der anderen Hand legte er einen Finger unter mein Kinn und zwang mich so, ihn anzusehen.
„Sie wussten einfach nicht, was sie an dir hatten.", sagte er leise und sein rechter Mundwinkel wanderte ein Stück nach oben. Ich konnte nicht anders, als ebenfalls zu lächeln und plötzlich pulsierte mein Herz wie wild in meiner Brust. Sein Blick nahm mich gefangen und ich konnte mich gegen diese Anziehung nicht wehren.
Schließlich räusperte er sich, zog seine Hände weg und sah kurz aus dem Fenster, ehe er den Blick wieder zu mir wandte und mich ansah.
Der Mann tauchte erneut an unserem Tisch auf. „Wir schließen gleich.", sagte er emotionslos. Irgendetwas an diesem Mann war mir nicht geheuer. Er hatte etwas beängstigendes, einschüchterndes. Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her.
„Zusammen.", sagte Nathan, ehe ich die Möglichkeit hatte, auch nur nach meiner Geldbörse zu greifen.
„Du musst nicht...", begann ich. Es ehrte ihn, dass er mich einladen wollte, doch ich konnte mein Essen auch selbst bezahlen.
„Ich weiß. Aber ich möchte.", er zwinkerte mir zu und gab dem Mann einen Schein. Dann verschwand er und auch wir standen auf. Wie als wäre es das Natürlichste der Welt, nahm Nathan meine Hand und führte mich aus dem Restaurant. Und obwohl wir uns erst kurz kannten und das unser erstes Date war, war ich ihm dankbar für diese Geste. Ich fühlte mich sicher und nachdem ich ihm ein Teil meiner Kindheit erzählt hatte, war es das schönste, was er hätte tun können.Nathan fuhr mich direkt nach Hause. Als er den Wagen vor unserem Haus stoppte, wurde ich unruhig.
„Das war ein sehr schöner Tag! Vielen Dank!", sagte ich und löste meinen Gurt. Er lächelte mich an und nickte.
„Ich würde dich gerne wiedersehen.", antwortete er daraufhin leise. Wieder hämmerte mein Herz gegen meine Brust.
„Das wäre schön.", sagte ich. Dann öffnete ich die Autotür und wollte aussteigen, doch er hielt mich am Arm fest und gab mir einen sanften Kuss auf die Wange.
„Bis bald, Clara.", sein umwerfendes, schiefes Lächeln gab mir den Rest und seine plötzliche Nähe machte mich so nervös, dass ich meine Stimme verlor. Wie in Trance nickte ich und erntete dafür ein kurzes Lachen.
Ich schloss die Autotür hinter mir und lief zur Haustür. Im Rücken spürte ich kurz seinen Blick, dann jaulte der Motor auf und ic hörte, wie er davon fuhr.
Schnell lief ich nach oben in die Wohnung, bevor mir auf der Treppe die Beine wegklappten.
Doch viel Zeit zum erholen, blieb mir nicht, denn Anni stürmte auf mich zu und grinste mich mit einem breiten Grinsen an.
„War das Nathan? Gott, sieht der gut aus!", ihre Augen waren groß wie zwei Teller und starrten mich abwartend an.
„Hast du uns beobachtet?", ich zog meine Augen tadelnd zusammen und wartete auf eine Antwort. Anni zuckte nur unschuldig mit den Schultern. „Ich doch nicht.", dann zwinkerte sie mir zu, hakte sich bei mir ein und zog mich in die Küche.
„Erzähl!!!" Wie ein kleines Mädchen, dass auf ihre Guten-Nacht-Geschichte wartete, saß sie vor mir und zog ihre Beine gespannt an. Ich musste schmunzeln, über dieses lustige Bild, welches sich mir bot.
„Was soll ich groß erzählen?", sagte ich.
„Na was habt ihr gemacht?", ihre Augen weiteten sich noch mehr und ich hatte die Befürchtung, sie würden ihr jede Sekunde herausfallen. Mit einem seufzen gab ich nach. Ihre Neugier war so groß wie die Mount Everest hoch war, sie würde keine Ruhe geben.
„Wir waren in der National Gallery und...", plötzlich schien sich mein Kopf wieder einzuschalten und die Erinnerung tauchte vor meinem inneren Auge auf. Diesmal waren es meine Augen, die sich weiteten.
„Was hast du denn?" Mein plötzlicher Gesichtsausdruck ließ Anni hochfahren. „Gehts dir gut? Hast du was vergessen? Ich hoffe es ist nicht dein Handy, denn dann...", sie redete ohne Punkt und Komma.
„Nein! Es war ein Bild meiner Mutter! Es hing da in der Ausstellung!", erwacht aus meiner Schockstarre, wedelte ich aufgeregt mit den Händen. „Ein Bild, hörst du. Und ich habe es angefasst und Überraschung... ich bin ohnmächtig geworden. Als wäre ich eine Prinzessin, musste Nathan mich auffangen.", nun sprach ich ohne Punkt und Komma. „Wieso hängt denn da ein Bild von meiner Mutter? Ich wusste nicht einmal, dass sie Künstlerin war?!", verzweifelt hob ich die Arme über den Kopf. Anni fand ihre Stimme wieder und atmete tief ein.
„Warte mal.", unterbrach sie mich. „Bedeutet das, dass deine Eltern aus London kommen?", sagte sie.
„Du meinst..."
„Klar! Wenn sie aus London kamen, können wir einfach im Stadtarchiv nachsehen!", sagte sie euphorisch.
„Aber wir können ja nicht einfach darein spazieren. Denkst du, sie lassen uns einfach ihre Unterlagen durchwühlen?", entgegnete ich. Anni lachte kurz.
„Wir könnte einfach erstmal fragen, bevor wir wieder den Teufel an die Wand malen?", mit einem halben Lächeln sah sie mich an. Damit nahm sie mir den Wind aus den Segeln. Wieso ging ich immer direkt vom schlimmsten aus?...
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Im Schatten meiner Erinnerung
FantasyClara hat seit ihrer Kindheit ein und denselben Traum. Der Traum befördert sie in die Dunkelheit. Sie wird verfolgt von Déjà Vu's und findet sich in seltsamen Situationen wieder. Als sie eines Abends durch die dunklen Straßen Londons läuft, steht p...