Bücher

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Lesen ist Reisen im Kopf. Seite für Seite gebe ich mich neuen Abenteuern hin. Ich stelle mir Berlin im Jahre 1964 vor, nachdem Deutschland den Krieg gewonnen hat, ich reise mit Professor Lidenbrock zum Mittelpunkt der Erde, betrachte mit Aomame die zwei Monde am Himmel oder kämpfe mit Toyo gegen die Sperbermenschen. Die Autoren lassen mich an ihrer Fantasie teilhaben und ich nehme das Angebot gerne an. Die Geschichten in Büchern sind zeitlos. Während sich die Welt um sie herum verändert, bewahren sie ein Stück Geschichte. Tom Sawyer lebt genau so abenteuerlich auf seiner Pirateninsel, auch wenn der Mississippi längst nicht mehr von Raddampfern befahren wird. 1984 bleibt ein spannendes Buch über die Zukunft, auch wenn das Jahr mittlerweile unerreichbar weit in der Vergangenheit liegt.

Früher wurde ich belehrt, die Groschenromane rund um Cowboys und andere Haudegen im Wilden Westen seien "Schundliteratur" und schadeten meiner Entwicklung. Was kann denn bitteschön am Lesen schädlich sein? Ich hätte Goethe oder Schiller lesen sollen. Das sei wahre Bildung, hiess es. Beim Lesen will ich mich aber nicht primär bilden lassen, ich will Abenteuer erleben, ich will mich unsterblich verlieben, ich will reisen. Wenn ich Bildung will, dann lese ich Sachbücher oder Sekundärliteratur, um mehr über einen gelesenen Roman zu erfahren oder um den Autor besser kennenzulernen.

In unserer modernen Zeit werden Geschichten mehrheitlich verfilmt und Sachbücher werden durch Internetseiten ersetzt. Ersteres empfinde ich als Einschränkung, denn ein Film zeigt nur die Vorstellung des Regisseurs und weitere Fantasie hat wenig Platz. Letzteres macht durchaus Sinn, denn neue Erkenntnisse oder der technische Fortschritt können im Internet schneller angepasst werden, als das in Sachbüchern möglich wäre. Sachbücher veralten, verlieren ihre Aktualität und werden höchstens für Historiker einmal wieder interessant.

Bücher haben keine Saison. Sie begleiten mich zum Strand genau so gut wie in die Skihütte. Aber an einem verschneiten Winterabend vor den Kamin sitzen, die Tasse mit heissem Tee neben mich stellen, Füsse hoch legen und unter die warme Decke schieben und dann mit den Gedanken in die Geschichte des Buches eintauchen - das ist ein wunderbarer Moment, der durch nichts zu ersetzen ist. Eine Reise im Kopf eben, ich freue mich auf das nächste Abenteuer.

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