Samichlaus

4 2 0
                                    

Nikolaus von Myra lebte und wirkte Ende des dritten bis Beginn des vierten Jahrhunderts in der Region Lykien, die damals zum Römischen Reich gehörte und heute in der Türkei liegt. Er war Bischof in Myra und war bekannt für seine Gutmütigkeit. Er spendete sein Erbe für die Armen und sorgte sich um deren Kinder. Seine Taten, sein Wirken, wurde in Geschichten berichtet. Geschichten wurden zu jener Zeit noch nicht geschrieben oder gar archiviert. Man erzählte sie sich weiter und wie immer, wenn Menschen etwas erzählen, verändert sich die Geschichte. Mit jeder Erzählung wird sie bunter, grösser, bis schliesslich aus einem gutmütigen Mann ein Heiliger wird. Die Christliche Kirche ehrt ihn heute, am 6. Dezember, dem St. Nikolaustag.

Man könnte durchaus sagen, dass Eltern ihren Kindern zwar lehren, nicht zu lügen, sie aber selbst in den jüngsten Jahren stets belügen mit Geschichten um einen Mann, der im Wald wohnt, mit einem Esel vorbeikommt und der weiss, ob du brav warst oder nicht. In meinen Augen ist das aber keine Lüge. Es ist der Versuch, die kindliche Fantasie so lange wie nur möglich zu erhalten. Der Besuch des Samichlaus ist eine Mischung aus Freude und Furcht, vergleichbar mit einem spannenden Buch, wo man nie weiss, was einem erwartet. Draussen liegt Schnee. Zuerst hörst du nur das Glöckchen, dann siehst du drei Gestalten über das Feld näher kommen. Eine davon ist gross, erhaben, die andere eher klein, gebückt und die dritte hat die Silhouette eines Esels. Die Kinderaugen weiten sich, die kleinen Händchen kugeln sich zu Fäustchen und die Füsschen beginnen zu zappeln. Samichlaus ist da! "Setz dich, du bist sicher Müde von deiner weiten Reise. Möchtest du einen Weihnachtstee? Ich habe ihn mit Mama selbst gekocht." Dann kommt der grosse Moment. Samichlaus öffnet sein dickes Buch. Der gutmütige, nette Mann wird kurz etwas strenger und weiss tatsächlich viele Dinge, welche die Kinder angestellt oder gut gemacht haben. Seine tiefe, warme Stimme lehrt und erzieht, ohne dass die Kinder dies merken. Schliesslich dürfen die Kinder stolzerfüllt ihre Gedichte aufsagen und erhalten zum Dank den kleinen Sack mit Nüssen, Früchten und etwas Schokolade darin. Manch ein Kind gibt dem Samichlaus seinen Nuggi ab, weil es jetzt ja schon gross ist und diesen nicht mehr braucht. In diesem Moment musst du als Mann unter dem Kostüm kurz leer schlucken und hoffen, dass der kleine Junge die Träne unter der Perücke nicht sieht. Samichlaus verabschiedet sich und zieht mit Schmutzli und dem Esel wieder in den Winter hinaus zu allen anderen Kindern.

Unsere Profitgesellschaft hat in den letzten Jahren den amerikanischen Santa Claus importiert. Von Oktober bis zum Boxing Day nervt der Dicke in jedem Schaufenster, schaukelt, wippt und singt von irgendeinem X-Mas. Er soll für noch mehr Einnahmen sorgen und das Geschäft tüchtig anheizen. Kinder nehmen möglichst viele Geschenke entgegen, reissen diese auf und nehmen enttäuscht zur Kenntnis, dass es nicht das neueste Gadget ist, welches sie sich erhofften, nicht die Schokolade, welche sie am liebsten mögen. Aus Dankbarkeit und Fantasie wird nur ein weiterer Rummel, alle Jahre wiederkehrend, wie Last Christmas von Wham.

Einseitige TexteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt