Vater

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Am 12.12.2012, um etwa 12 Minuten nach elf Uhr nachts, hat uns mein Vater für immer verlassen. Er hat Zahlen geliebt, in ihnen gelebt, bis zum Schluss, es hätte nicht anders sein können. Seither wacht er als Stern am Himmel über mich, begleitet mich bei meinen Schritten und Fehltritten, berät mich, wenn ich nicht mehr weiter weiss. Obwohl der Moment damals sehr schwierig war, weiss ich heute, dass loslassen nicht unbedingt trennen heisst.

Mein Vater hat uns immer vorgelesen. Ganze Bücher, und er war ein guter Leser. Er konnte gar hochdeutsche Texte spontan in Mundart lesen und umgekehrt. Ich erinnere mich an Fotos, wo wir Kinder am Boden liegend fasziniert seinen Worten horchen. Ich erinnere mich an einzelne Bücher, die heute wohl behütet in meinem Regal stehen oder ab und zu von einem meiner Schüler gelesen werden.

Die Vaterrolle ist eine schwierige Aufgabe, mit sehr viel Verantwortung bestückt. Vorbild sein, Wege zeigen, tadeln, trösten, begleiten, lehren. Mein Vater war kein Übermensch, kein Superman. Seine langen Abwesenheiten durch Arbeit und Politik haben die Familie damals sicher belastet. Doch immer, wenn wir ihn brauchten, war er da. Er nahm sich immer wieder irgendwoher die Zeit, mit uns etwas zu unternehmen. Ich erinnere mich an lange Wanderungen über Berggipfel, an den Schwimmunterricht in der Emme, an Wochenenden als Schausteller irgendwo auf einem Lunapark. Ich weiss heute, er war ein guter Vater, mit all seinen Fehlern. Je älter ich werde, desto mehr von ihm erkenne ich in mir. Und genau das nenne ich Unendlichkeit. Das Leben erfindet sich nicht immer wieder neu. Wir übernehmen Denkweisen, Ticks und Handlungsarten von unseren Eltern, passen sie unserer Zeit an und geben sie unseren Kindern weiter.

Ich wäre gerne Vater. Als junger Lehrer wollte ich das nicht - zu viel konnte für mich damals schief gehen. Zu viele gescheiterte Jugendliche habe ich kennen lernen müssen. Ich war wohl einfach noch nicht bereit dafür.

Heute denke ich, wahrscheinlich hat es so sein müssen. Viele dieser Aufgaben kann ich in meinem Beruf übernehmen. Vielleicht bin ich deshalb mehr Betreuer als Dozent. Der Lehrerberuf ähnelt der Vaterrolle manchmal stark, wenn ich es zulasse.

Es ist mir heute wichtig, neben Mathe und Geografie meinen anvertrauten Jugendlichen auch Handlungsweisen und Fantasie zu vermitteln. Ich setze mich gerne mit ihnen hin und lese aus einem Buch.

Meine Erinnerungen an Va sind zahlreich und verblassen nicht. Oftmals tauchen sie unvermutet auf, erheitern mich oder stehen mir bei. Genau das ist für mich das Wirken der Sterne, oder wie andere es nennen, der Engel.

Va, ich vermisse dich - danke, dass du immer für mich da bist.

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