Herbstlicht

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Der Herbst ist die goldene Zeit des Jahres, sagt man. Wahrscheinlich ist dies naheliegend eine Folge der gelblich scheinenden Blätter der Bäume. Viel mehr aber beeindruckt mich das intensive Licht, welches schon Malern beinah die Besinnung raubte. Dieses gelblich gefärbte Herbstlicht, das jeden Abend die Olivenbäume noch einmal in ihrer gesamten Schönheit leuchten lässt. Das Licht, welches alleine zu wärmen vermag, auch wenn die Sonne schon langsam hinter den Horizont sinkt. Lange Schatten künden die Nacht an, nur um sich danach auf der anderen Seite der Zypressen wieder ähnlich lang auf den neuen Tag zu freuen.

Zahlreiche Früchte des Herbstes sind golden. Trauben in der Schale, Kürbis im Risotto, Mandeln auf dem Dessert. Der Herbsttisch ist reichlich gedeckt, man bekommt den Eindruck, sich noch einmal so richtig satt essen zu müssen, bevor der Winter seine Ruhe und Kälte über die Welt legt. Ich sitze in der wärmenden Morgensonne und lehne mich an die Bruchsteinmauer. Ich bin dabei nicht alleine, Eidechsen oder kleine Krabbeltiere tun es mir gleich. Frühaufsteher bei den Insekten summen bereits emsig um uns herum, immer achtsam, nicht von den noch etwas trägen Eidechsen entdeckt zu werden. Meine Hände werden vom Kaffee gewärmt, sein würziger Duft vermischt sich mit dem Rosmarin, welcher unmittelbar neben mir steht.

Die Zeit läuft hier irgendwie anders. Niemand stresst, kein Verkehr, kein Lärm, keine Hektik. Die einzigen schnellen Bewegungen sind jene der Eidechsen, wenn sie genug Wärme getankt haben. Ich aber sitze da, lasse meinen Blick über die sanften Hügel schweifen und sauge das goldene Morgenlicht ein. Dazwischen nehme ich einen Schluck Kaffee und spüre, wie ich lebe. Noch vor wenigen Jahren war die Zypresse gegenüber ein kleines Bäumlein, ein richtiger Besen, beinah hässlich und struppig, von den Schafen angefressen. Nun steht sie erhaben, königswürdig in der Reihe und markiert die landestypische Silhouette der Zypressenallee entlang der Zufahrt zum Haus. Sie lebt. Sie hat es geschafft, das wertvolle und seltene Wasser zu sammeln um mit aller Kraft dem starken Wind trotzen zu können und zu wachsen. Dabei nimmt sie nur so viel Wasser auf, wie sie braucht und lässt den Rest ihren Mitbewohnern, den anderen Pflanzen. Zudem gibt sie einen Teil der Leben spendenden Flüssigkeit als Morgentau ab, Insekten freuts. Mir wird bewusst, das Leben ist ein Kreislauf. Nehmen und geben, anders funktioniert das nicht. Einzig der Mensch hat Mühe damit, das zu verstehen, obwohl er doch als einziges bekanntes Lebewesen abstrakt denken und kombinieren kann. Wir behaupten, die Welt zu verstehen und wissen doch so wenig über ihre Zusammenhänge.

Das Herbstlicht ist Teil dieses Kreislaufes. Jeden Morgen und Abend umrahmt er die Nacht, als wollte er sie weniger bedrohend erscheinen lassen. Ich merke, auch ich biege langsam in den Herbst des Lebens ein. Ich freue mich darauf, denn der Herbst ist eine goldene Zeit. Der herbstliche Lebenstisch ist reich gedeckt, die Freude gross, die Früchte süss. Zusammen werden wir tanzen, singen und uns am Licht des Herbstes erfreuen. Freunde, Familie, Bäume und die Eidechsen - wir leben auf der gleichen Erde, wir trinken das gleiche Wasser und wir folgen dem gleichen Kreislauf. Wenn meine Energie schon lange an andere Lebewesen übergegangen sein wird, so werden die Olivenbäume immer noch da stehen, die Zypresse wird noch grösser und noch stolzer sein. Ich beginne mich zu fragen, ob sie sich je an mich erinnern können. Im Moment aber sitze ich einfach nur neben ihnen, freue mich wie sie über das flache Morgenlicht, welches die Toskana golden färbt und spüre: Ich lebe.

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