keine angst.

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KÜHLE NACHTLUFT drang durch eines der Fenster in das Zimmer, das vorher so überhitzt von Menschen, Backofen-Wärme und Weihnachtsstimmung gewesen war. Der Duft von Plätzchen und Kerzenwachs lag noch immer im Raum, aber die meisten der Kinder, besonders die jüngeren, waren bereits zu Bett gegangen.
Taehyung und Namjoon halfen den Betreuern beim Abwaschen, während Seokjin und Jimin dabei waren, die Backzutaten zurück in eine Speisekammer zu bringen.

Sie ließen den großen Raum hinter sich und gingen zusammen durch den kühleren Flur im oberen Geschoss, wobei sie sich Mühe gaben, so leise wie möglich zu sein. Trotzdem wagte es Jimin, Seokjin flüsternd zu fragen: „Wo war dein Zimmer, Seokjin?“

„Ich habe unten geschlafen. Ich war ja schon vierzehn, als ich hergekommen bin“, antwortete der Angesprochene, während er die Tür zur Speisekammer aufschloss.
„Die meiste Zeit über musste ich mir ein Zimmer mit Ryu-Seung teilen. Das ist der größere Typ, dem du zu meinem Geburtstag die Stirn geboten hast.“ Obwohl Seokjin so leise sprach, glaubte Jimin an seiner Stimme erkennen zu können, dass er lächelte. „Das - äh - war übrigens ziemlich cool von dir.“

Es erfüllte Jimin mit Stolz, das zu hören. „Du warst auch sehr cool“, wisperte er zurück und war froh, dass Seokjin damit beschäftigt war, Milchkartons in den Kühlschrank zu stellen, und nicht auf die Röte auf seinen Wangen achtete.

„Nein.“ Seokjins Stimme war kaum hörbar gewesen, aber dennoch überraschte sie Jimin.
„War ich eigentlich überhaupt nicht.“ Während er das sagte, fuhr er so gelassen damit fort, den Kühlschrank einzuräumen, als wäre seine Antwort völlig nebensächlich gewesen.

Jimin hatte in seiner Bewegung, ein Zuckerpäckchen in ein Regal zu stellen, inne gehalten. Am liebsten hätte er es wieder rausgeholt, falls Seokjin etwas davon benötigte.
Jedoch wusste er nicht, ob bei ihm der Zucker auch so wirken würde wie bei Taehyung und Jimin selbst, also drehte er sich ohne herum und versuchte, im Dämmerlicht, das die Glühbirne an der Decke erzeugte, Seokjins Blick einzufangen.
Aber alles, was er tun konnte, war dessen Rücken anzustarren, der genauso nichts sagend über die Gefühle seines Gesprächspartners war, wie es eine weiße Wand gewesen wäre.

„Fand ich schon“, wiederholte Jimin seine Meinung. Die Stimmung im Raum fühlte sich auf einmal kalt an und wenn er sich getraut hätte, hätte er Seokjin jetzt wohl umarmt.

„Ich habe ihre Worte die ganze Zeit gehört. Von Anfang an“, erwiderte Seokjin nach einem Moment der Stille. Das Aufräumen der Zutaten hatte er mittlerweile beendet, aber zu Jimin umdrehen tat er sich trotzdem nicht. Stattdessen blickte er gegen die hölzerne Oberfläche eines Regals und seine Hände hätten vielleicht gezittert, hätte er sie nicht auf den Tresen vor sich gestützt.
„Und ich hab nichts gesagt. Erst dann, als du eingeschritten bist und mutig warst, hab ich den Mund aufbekommen.“

„A-Aber dann bist du auch eingeschritten. Und das ist doch, was zählt.“
Jimin wusste nicht, warum Seokjin sich scheinbar zurückgehalten hatte, aber die Bitterkeit in dessen Stimme zu hören, machte ihn traurig. Egal seit wann er die Worte gehört hatte, Jimin fand sein Handeln bewundernswert.
„W-Wärest du nicht in meiner Nähe gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich auch nicht getraut.“

Endlich wand sich Seokjin um. Er lächelte Jimin an, aber es war nicht besonders überzeugend. Vor allem nicht, weil er daraufhin sagte: „Ich hatte keine Angst vor Ryu oder seinen dämlichen Freunden. Ich hatte Angst vor mir selbst, Jimin.“
Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Kühlschrank und seine Augen wanderten zu dem kleinen Fenster, das in die Wand eingelassen war. Man konnte es nicht öffnen und es war nicht der gleiche Blick wie von seinem Dach Zuhause aus, aber es war besser als nichts. Er konnte nicht anders, als seinen Blick über die Stadt schweifen zu lassen, wenn er über sowas sprach.

Jimin antwortete nicht. Er konnte sich denken, was Seokjin damit meinte, aber er wollte ihn nicht unterbrechen. Stattdessen setzte er sich auf die Theke neben ihn und lehnte seinen Kopf vorsichtig an seine Schulter. So hatte er schon vor zwei Monaten, zu Halloween, sein bestes getan, nonverbal Unterstützung zu zeigen, und so tat er es auch wieder.

Seokjin schien das zu verstehen. Als er fortfuhr, sprach er deutlich leiser, weil sich ihre Köpfe jetzt so nah waren.
„Weißt du, es geht Ryu nicht primär um Taehyung. Natürlich hat er auch seinen Spaß daran, ihn zu beleidigen, aber das auf meiner Geburtstagsfeier war etwas anderes. Da hätte Taehyung ihn schließlich gar nicht hören können.“ Es war kein Hass oder Ärger in Seokjins Stimme zu hören. So wie er den Jungen mit Ryu betitelte, statt seinen vollen Namen zu nutzen, klang es eher, als redete er über einen alten Freund.
„Seine Worte sind für mich bestimmt gewesen.“

Vorsichtig streckte Jimin seine Finger nach Seokjins Hand aus. Er umschloss sie mit seiner, ohne den Größeren zu unterbrechen. „Er wollte mich provozieren, weil er genau weiß, wie sehr ich es hasse, wenn jemand so über Taehyung redet“, sprach Seokjin weiter.
„Und es hat ja auch geklappt ― ich war so wütend wie schon lange nicht mehr.“ Er stieß ein trockenes Lachen aus, als müsste er sich dafür schämen, dass er ärgerlich geworden war. Dabei fand Jimin, dass er alles Recht dazu gehabt hatte, zornig zu sein.

„Aber ich hab nichts gesagt. Ich wollte nicht darauf eingehen, weil ich ihm nicht das Gefühl geben wollte, dass er die Macht über meine Emotionen hat. Was für ein egoistischer Grund, einen Freund nicht zu verteidigen.“
Jimin strich mit seinem Daumen über die Handoberfläche von Seokjin. Es war eine unbeholfene Berührung und doch war sie trostspendend.

„Und außerdem― Außerdem hatte ich Angst davor, wie ich reagieren würde. Weil Ryu doch sehr wohl Macht über mich hat und es so schwer ist, sich zu beherrschen, wenn man ihm gegenüber steht.“ Seokjins Stimme klang viel tiefer als sonst, als er diese Worte sprach.
„Ich hätte es fast wieder getan. Als ich ihm gegenüber gestanden habe, war ich so kurz davor, ihm einfach eine reinzuhauen.“ Ihm entkam ein kehliges Lachen angesichts seiner Wortwahl, aber es klang genauso traurig wie seine Worte.

„Aber du hast es nicht getan, Seokjin“, wisperte Jimin leise. Er ließ sich von der Theke heruntergleiten, sodass er nun neben Seokjin stand. Ihre Hände waren immer noch verschränkt, aber sie konnten sich jetzt wieder ansehen. Obwohl es im Dämmerlicht nicht eindeutig war, meinte Jimin, Tränen in Seokjins Augen zu sehen.
Wie es wohl für ihn war, hier zu sein, wo an jeder Ecke Erinnerungen an Ryu-Seung kleben mussten? Und dennoch schaffte er es, so ehrlich über seine eigenen Schwächen zu sein. Obgleich so eine traurige Stimmung im Raum hing, war Jimin in diesem Moment sehr stolz auf Seokjin.

„Ich hab es nicht getan“, wiederholte Seokjin. „W-Weil ich genau weiß, wie viel Angst das Yoongi immer gemacht hat und ich nicht wollte das―“
Er holte tief Luft, dann sah er Jimin in die Augen. „Ich wollte nicht, dass du vielleicht auch Angst vor mir bekommst.“

Sie sahen sich in die Augen, ohne das einer von ihnen beiden etwas sagte. Wieder einmal hatte Jimin das Gefühl, er könnte im Braun von Seokjins Iris versinken. Aber diesmal weckte er sich selbst aus diesen Gedanken.
Ein bisschen rot war er geworden, jedoch nicht durch Seokjins Worte oder den Augenkontakt, sondern wegen dem Gedanken, der ihm so eben durch den Kopf gegangen war. Aber was hatte er schon zu verlieren? War es nicht das, was eine Figur aus einen von Yoongis Liebesromanen tun würde?

„F-Falls wir später wieder bei dieser Mistel vorbeikommen“, wisperte Jimin, „dann hier schon mal im Voraus.“
Vorsichtig legte er seine Hände auf Seokjins Schultern, stellte sich auf Zehenspitzen und küsste ihn so auf die Stirn, wie er es mit ihm getan hatte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, aber als er sah, wie sich Seokjins Pupillen weiteten und sich ein zögerliches Lächeln auf seinen Lippen ausbreitete, wusste er, dass es das Richtige gewesen war.
„Ich habe nämlich keine Angst vor dir, Seokjin. I-Im Gegenteil. Ich glaube eigentlich, dass ich in dich verliebt bin.“



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um yes, mY BOY IS REALLY GOING FOR IT!!
i'm sorry, dass sich der weg bis hier her so gezogen hat tho

thank you lots for reading,
please vote and comment!!

MOUNT EVEREST ― jinminWo Geschichten leben. Entdecke jetzt