adler und schwan.

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cw: erwähnung (??) von suizid

KIM SEOKJINS Augen fanden sich auf einmal überall in Jimins Alltag wieder. Die dunklen Pfützen vor seinem Haus hatten im Sonnenlicht das gleiche Glänzen; der Kaffee, den er im Mount Everest kochte, hatte die gleiche Farbe und immer dann, wenn er versuchte, sich auf etwas zu konzentrieren, sah er nur sie vor sich. Das verwirrte ihn, vor allem, weil er auf einmal immer so aufgeregt wurde, wenn er wieder an die Jacke dachte, die noch immer auf seiner Wäscheleine hing. Sie war eine Art Garantie dafür, dass er Kim Seokjin noch einmal treffen musste, doch genau diese Tatsache sorgte auch dafür, dass er sein Wohnzimmer seit dem so gut es ging gemieden hatte.

Der Regen hatte zuerst aufgegeben. Noch in der Nacht, in der Jimin Seokjin wieder getroffen hatte, hatte ein seichter Wind die Wolken vom Himmel vertrieben und dem Niederschlag ein Ende gesetzt. Jimin war gerade aus dem Restaurant getreten, als er stoppte und so in der dunkelsten Tageszeit, die die Stadt zu bieten hatte, einen sternenklaren Blick offenbarte.

Diese Himmelskörper waren mit der Zeit Freunde von Jimin geworden. Er beobachtete sie dann und wann und freute sich, sobald er im Winter zum ersten Mal seit einem halben Jahr den Orion erblickte, mit seinen Begleitern, dem großen und dem kleinen Hund. Diese drei hatte er schon in seiner Kindheit kennen gelernt; tatsächlich war es sein Bruder gewesen, der sie einander vorgestellt hatte. Im Sommer waren ihnen der Schwan und der Adler am liebsten gewesen, die mit ihren breiten Schwingen hoch oben am Himmel über sie wachten und die ihnen in ihrer Verbundenheit so ähnelten. Jeongguk hatte den Schwan am meisten geliebt und Jimin den Adler. Zusammen stellten sie sich vor, wie es wohl wäre, dort bei den Sternen mit ihnen zu fliegen. Jimin hoffte, dass es das war, was sein kleiner Bruder nun tat.

Auch heute saß er noch wach, um sich in den Vorstellungen darüber zu verlieren. Es war ein erstaunlich warmer Herbstabend, und Jimin hatte die Chance genutzt und sich auf seinen kleinen Balkon gesetzt. Von hier aus hatte man eine verblüffend gute Aussicht und manchmal fragte sich Jimin, ob sein Vermieter davon wusste — falls ja, hätte er dafür sicherlich extra zahlen müssen. Doch scheinbar war dieser Ort Jimins Geheimnis geblieben — sei es, wegen der Höhe (schließlich befand sich seine Wohnung und damit auch der Balkon im neunten Stock) oder wegen des Windes, der damit einherging — jedenfalls hatte er auch noch nie einen seiner Nachbarn auf deren Austritt gesehen.

In manchen Momenten kam er sich seltsam vor, wie er hier angstfrei in schwindelerregender Höhe saß, es ihm jedoch so viel Frucht bereitete, fremde Leute anzusprechen. Vielleicht war das aber auch der Grund, warum er die Nacht so mochte — man konnte sich in ihrer Dunkelheit vor den Blicken der anderen Menschen verstecken, sie hüllte einen ein, schien Geräusche zu dämpfen und erschuf allgemein eine angenehme Ruhe. Doch selbst sie half nicht dagegen, dass seine Gedanken andauernd zu Seokjin und dessen seltsamen Freunden abschweiften. Zwar verschluckte sie die Farben, doch die Sterne funkelten so, wie Seokjins Augen es getan hatten, die Stille erinnerte ihn an Namjoons Schweigen und der Abgrund, in den er durch das Gitter am Boden blicken konnte, rief ihm schließlich Taehyungs Worte in Erinnerung.

Ein Impuls in Jimin brachte ihn dazu, von seinem alten Gartenstuhl aufzustehen und die Brüstung herunterzusehen. Etwa fünfundzwanzig Meter unter ihm fuhren vereinzelte Autos über die vierspurige Straße, die Blätter der Bäume am Spielplatz wiegten sich im Wind und der Kater, den er manchmal im Keller traf, streunte am Fußweg entlang. Ein Sprung, ein Fall, ein Sturz, aus dieser Höhe würde ihn unweigerlich töten. Obwohl er seinen Körper für gewöhnlich selbst kontrollieren konnte, machte ihm die Vorstellung, er könnte hinunter springen, solche eine Angst, dass er vom Geländer zurückwich. Der Gedanke daran, dass Taehyung hier gestanden und dies nicht gefühlt haben musste, bedrückte ihn.

Rückwärts schob er sich zurück in sein Schlafzimmer. Es brauchte einige Augenblicke, bis sich sein Puls wieder normalisierte. Vielleicht war es die Müdigkeit, vielleicht die Erschöpfung oder vielleicht auch der Gedanke an Taehyungs Worte, die stärker auf ihn gewirkt hatten, als er erwartet hatte. Jedenfalls stiegen Tränen in Jimins Augen auf. Er legte sich auf den billigen Teppichboden, starrte an die Decke und weinte stumm. Der Mond warf sein Licht in Jimins Zimmer und malte die filigranen Schatten der Vorhänge an die Wände. Leise Klaviertöne drangen an sein Ohr und er hatte das Gefühl, Traum und Realität verschwimmen zu spüren.

Doch der feine Klang bestand weiter und nach einer Weile konnte Jimin seinen Ursprung lokalisieren. Jemand musste auf dem öffentlichen Klavier im Park spielen. Wie gerne würde einen Blick auf den Spieler werfen, doch er traute sich nicht, den Austritt noch einmal zu betreten. Also blieb er am Boden, und spähte nur ein bisschen durch die Gitterstäbe des Balkons. Es gelang ihm jedoch nicht, das Klavier in der Dunkelheit auszumachen und so verharrte er für einen Moment reglos in seiner Position, um der Musik weiter zu lauschen, während seine Tränen versiegten.

Es kam ihm vor, als müssten sie die einzigen beiden Menschen in der Welt sein, die zu dieser Uhrzeit noch wach waren. Es kam ihm vor, als spräche der Klavierspieler durch die Töne mit ihm. Es kam ihm vor, als wäre es unendlich wichtig, dass er ihm zuhörte. Und es kam ihm vor, als hätte er noch nie in seinem Leben etwas lieber gewollt, als diesem Menschen, diesem einzigen anderen wachen, zu antworten.

Also beschloss Jimin, herunter zu ihm zu gehen. Dass er für gewöhnlich Schwierigkeiten dabei hatte, mit fremden Menschen zu sprechen und dass er keine Ahnung hatte, wer ihn dort unten erwartete, bedachte er in seiner aufgeregten Müdigkeit gar nicht. Auch die Tatsache, dass es möglicherweise etwas kalt sein könnte, wenn er sich länger im Park aufhalten würde, fiel ihm erst im letzten Moment ein. Deshalb zögerte er nicht lange und griff sich Seokjins große Anzugjacke von der Wäscheleine — etwas, das er im wachen Zustand niemals so getan hätte.

Während er die Stufen der neun Geschosse wie im Flug hinuntereilte, bemühte er sich, so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Zum einen, weil ein Bruchteil der Musik durch die Wände an seine Ohren drang, zum anderen, weil er wusste wie wichtig seinen alten Nachbarn ihr Schlaf war — und er würde sich sicher nicht genug Schokoladentafeln leisten können, um sich bei allen Bewohnern des Hauses zu entschuldigen.

Die Luft am Boden kam Jimin tatsächlich kälter vor, als es die auf seinem Balkon gewesen war. Er steckte die Hände tief in die Taschen der Jacke, die noch immer etwas von ihrem eigenen Geruch behalten hatte und deren Ärmel viel zu lang für seine Arme waren, und rannte beinahe in die Richtung, aus der die Töne kamen. Die Geräusche seiner Schritte gingen in ihnen unter, doch trotzdem blickte der Spieler auf, als Jimin das Klavier erreichte.

Eigentlich hätte er überrascht sein müssen, schließlich konnte er nicht wissen, dass nur noch zwei Menschen auf der Welt wach waren und Jimin der zweite von ihnen war. Aber das schien er nicht zu sein. Stattdessen legte sich nur ein müdes Lächeln auf seine Lippen und er fragte mit ruhiger Stimme: „Jimin?"

Dem Angesprochenen stockte der Atem. „Yoongi?" Dieser Name war ihm so leicht über die Lippen gekommen, dabei war er sich nicht einmal sicher, ob er tatsächlich dem Pianisten aus dem Mount Everest gegenüber stand.

„Spielst du ein bisschen mit mir?" Er rückte ein Stück auf seiner Bank, sodass Platz genug für Jimin war und dieser setzte sich neben ihn ans Klavier. Auf einmal fühlte er sich wieder wie ein kleiner Junge, zurück versetzt in die Tage, in denen er so neben seinem Bruder gesessen hatte. Seine Finger zitterten, und er konnte nicht sagen, ob die Kälte die Ursache dafür war.

„Hast du Angst, Jimin?" Yoongis raue Stimme erklang in der von immerwährenden, leisen Melodien gefüllten Luft. Er deutete in den Himmel. „Sieh doch, der Orion wacht über dich. Und weißt du, auch der Schwan tut das, selbst wenn du ihn nicht mehr sehen kannst."

So sehr dieses Sternbild ihn immer beruhigt hatte, so sehr wühlte ihn Yoongi auf. Sie kannten sich nicht, und dennoch hatte sich sofort eine für Jimin beinahe verstörende Vertrautheit zwischen ihnen gebildet. Die tiefen Töne, die Yoongi nun spielte, unterstrichen Jimins traumtrunkene Verwirrtheit und verstopften seinen Kopf, bis er nicht mehr klar denken konnte.

„Yoongi, träume ich?"

„Ich weiß nicht. Ja?", erwiderte der Junge neben ihm sanft. Jimin lehnte sich an seine Schulter, blickte in den Himmel und zog seine Füße nach oben auf die Bank. Yoongi nahm eine Hand vom Klavier, um vorsichtig durch die Haare des Kleineren zu streichen und während dieser begann, ganz leise die Melodie mitzusingen. Er erkannte, dass es das Schlaflied war, das er so oft für seinen kleinen Bruder gesungen hatte, doch er verstand nicht, was das bedeutete.





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but i hope you still like it.
thank you for existing,
please eat and sleep enough.

MOUNT EVEREST ― jinminWo Geschichten leben. Entdecke jetzt