DRAUßEN regnete es noch immer. Hoseok hatte bereits aufgegeben, die Tage zu zählen. Jimin nicht. Er hörte nie auf; heimlich führte er sogar Listen darüber. Heute war der achte Tag des Regens. Noch immer zeigte er diese beneidenswerte Ausdauer, von welcher Jimin sich für das Zählen inspirieren ließ — solange der Regen nicht stoppte, tat er es auch nicht.
Während Hoseok seinen nächsten Zug überlegte und dabei angestrengt auf das Schachfeld starrte, blickte Jimin verträumt nach draußen. Sie saßen in seiner Küche, im neunten Obergeschoss eines Hochhauses, weshalb es unmöglich war, die Straße zu beobachten. Dafür sah man jedoch den in letzter Zeit wolkenverhangenen Himmel umso besser.
Vor ein paar Tagen, als Jimin gerade dabei gewesen war, die Tomaten für sein morgendliches Frischkäsebrot zu schneiden, hatte sein bester Freund angerufen. Tatsächlich war er die einzige Person, bei der Jimin es nicht unangenehm fand, zu telefonieren — im Gegenteil, er hatte sich sogar gefreut, dass Hoseok mit ihm hatte sprechen wollen. Das folgende Gespräch war der Grund gewesen, weshalb er nun hier vor ihm saß.
In wenigen Stunden würde Jimin seine erste Schicht in dem Café (oder war es doch eher eine Bar oder ein Restaurant? Jimin war sich sehr unsicher, was die Bezeichnung anging) antreten, in dem Hoseoks Freundin Wheein arbeitete.Nicht nur Jimin schien aufgeregt zu sein, denn Hoseoks nächster Zug war so unüberlegt, dass er sich unmöglich auf das Spiel hatte konzentriert haben können. Ein Lächeln schlich über Jimins Lippen, als er seinen Freund nun Schachmatt setzte, doch auch seine Gedanken kreisten die ganze Zeit um den kommenden Abend. Er würde tatsächlich im Mount Everst arbeiten! (Oder es zumindest mal ausprobieren.)
Der Laden hatte den Namen angeblich durch den Ruf, der beste seiner Art zu sein. Doch nicht nur deshalb lag ein Druck auf Jimin — er wollte außerdem Hoseok (und Wheein) stolz machen, die ihm den Job besorgt hatten.
Es war allerdings nicht so, als hätte er Erfahrungen im Kellnern oder ähnlichem, und die Tatsache, dass es ihm immer noch schwer fiel, Menschen in die Augen zu sehen, machten die ganze Sache nicht gerade leichter.
Als Aushilfe in der Bibliothek (diese Arbeit würde er tagsüber weiter machen) hatte ihm dies keine Schwierigkeiten bereitet. Beinahe die ganze Schicht lang hatte er allein zwischen den Buchregalen gestanden und sortiert, eingeräumt, kontrolliert und protokolliert. Nun würde er jedoch regelmäßig sogar mit Fremden sprechen müssen, und diese Aussicht machte auch ihn sehr hibbelig.Wenn Jimin aufgeregt war, konnte er nicht aufhören, herumzuzapeln. Normalerweise war es ihm peinlich, dass seine Hände dann ständig ruhelos an seinem Pullover herumzupften oder durch seine Haare fuhren oder wirre Rhythmen auf jegliche Oberflächen in seiner Nähe klopfen, doch da Hoseok davon wusste und diese Angewohnheit verstand, hielt Jimin sich in seiner Gegenwart nicht zurück. Das bedeutete jedoch, dass er ohne Pause mit den Beinen wippte, mit dem Kopf wackelte oder vor sich hin brabbelte, ohne es überhaupt selbst zu registrieren. Vor seinem besten Freund blieb es allerdings nicht unbemerkt und als dieser mit einem warmen Lächeln bemerkte, dass Jimin sich keine Sorgen machen müsse, achtete dieser doch mehr darauf und versuchte (eher erfolglos) den Impuls zu unterdrücken.
Als es nur noch eine Stunde bis zum Beginn seiner Schicht war, hielt Jimin es nicht mehr aus. „Hoseok?", fragte er so beiläufig möglich, während er quasi um seinen Freund herumtanzte, weil er nicht mehr ruhig hatte stehen können.
„Was passiert, wenn ich das doch nicht so schaffe, wie gedacht?"
Wie gedacht bedeutete, er würde heute mit Hoseok und dessen Freundin zusammen im Café den Abend verbringen, bei der Arbeit mithelfen und am Ende entscheiden, ob er es tatsächlich versuchen wollte.„Dann gehen wir eben wieder heim, und finden etwas anderes für dich", erwiderte der Angesprochene ebenso beiläufig, obwohl er genau gemerkt hatte, wie aufgeregt sein Freund war.
Diese Antwort beruhigte Jimin — allerdings nur für wenige Minuten.
Kurz darauf ertönte seine Stimme erneut (natürlich wieder ganz nebenbei) und er fragte: „Und was ist, wenn ich erst Ja sage und sich dann doch herausstellt, dass ich nicht geeinigt bin?"„Das Gleiche. Jimin, es ist nicht schlimm, wenn der Job nicht zu dir passen sollte, weder ich noch Wheein wären dir böse. Du musst nichts machen, das du nicht machen willst. Wenn du gar nicht möchtest, müssen wir da auch heute nicht hingehen — aber ich denke, dass es eine gute Möglichkeit wäre. Nicht nur um Geld zu verdienen."
„Doch, ich möchte ja auch der arbeiten, nur—", Jimin wusste nicht die richtigen Worte, um zu auszudrücken, wie er sich fühlte.
Hoseok verstand ihn dennoch.
Mit einem Fingerzeig auf das Schachfeld vor ihm und einem Lächeln antwortete er: „Ich weiß, Jiminie. Deshalb gehen wir ja auch erst mal zusammen dort hin. Mach dir nicht so viele Sorgen und jetzt räum deinen Turm aus dem Weg, oder ich sehe mich gezwungen, ihn zu schlagen."Schleunigst kam Jimin seiner Aufforderung nach, entschied kurz drauf mit einer für Hoseok frustrierenden Leichtigkeit das Spiel für sich und dann brachen sie zum Mount Everest auf.
Der Regen hatte sich zu einem Nieseln abgeschwächt, sodass typisches Herbstwetter entstanden war. Das störte Jimin allerdings nicht, er mochte den Herbst. Es war die Zeit, in der sein Bruder geboren wurde und in der auch er Geburtstag hatte.
Jedes Jahr sammelte er in diesen Monaten die schönen, glatten Kastanien von der Wiese hinter seinem Haus und schmückte damit das Grab, in dem so wohl Jimins Vater als auch Jeongguk lagen. So gut wie alle Erinnerungen, die er an seinen kleinen Bruder hatte, waren mit dem Herbst verknüpft und so erfüllte ihn jedes Mal eine sanft-melancholische Stimmung, wenn diese Jahreszeit hereinbrach.Hoseok schien es ähnlich zu gehen, weshalb sie auf dem Weg zu seinem zukünftigen Arbeitsort kaum sprachen. Die Strecke war nicht besonders lang, doch in seiner Nervosität kam er ihm beinahe endlos vor.
Die Straße, die sie entlang gingen, war von Kastanienbäumen gesäumt. Jimin hob eine davon auf, holte sie behutsam aus ihrer Stachelschale und ließ sie danach ständig zwischen seinen Händen hin- und her gleiten.
Komischerweise mischten sich bei ihrem Anblick die Erinnerung an den Fremden aus dem Supermarkt in die an seinen Bruder und übertönten sie sogar. Jimin hätte schwören können, dass dessen Haar die gleiche, schöne Farbe wie die holzartigen Früchte gehabt hatte.
Ob er ihn wohl wiedersehen würde?Ein Teil in Jimin wünschte es sich, schon allein, damit er sich bedanken konnte — allerdings wusste er natürlich nicht, ob sich der Fremde, der immerhin einen ziemlich teuer aussehenden Anzug getragen hatte, überhaupt über Supermarkt-Schokolade freuen würde.
Zumal Jimin nicht sicher war, ob er gegen Ende dieses Monats tatsächlich wieder genug Geld haben würde, um sich bei jemandem zu bedanken.Außerdem wollte der andere Teil von ihm das Ganze am liebsten schnell vergessen. Obwohl es sein Plan gewesen war, jemanden um die fehlenden Cent zu bitten, war es ihm irgendwie peinlich gewesen, auf die Hilfe des Fremden angewiesen zu sein. Die Vorstellung, dass dieser ihn dabei beobachtete hatte, wie er sein Geld vergebens abgezählt hatte, verunsicherte ihn.
Als Jimin so darüber nachdachte, kam es ihm jedoch egoistisch vor, dass er ihn wegen dieses Schams nicht wiedertreffen wollte — immerhin hatte er immer noch die Jacke des Fremden.
Momentan hing diese frisch gewaschen auf Jimins Wäscheleine im Wohnbereich seiner Küche, doch er hatte keine Ahnung, was er (außer sie zurückzugeben) mit ihr anstellen sollte, wenn sie trocken war. Der Fremde war deutlich größer als er gewesen und gerade an den Schultern schien die Jacke viel zu breit für seinen schmalen Rücken zu sein.
Selbst anziehen war also keine Option, zumal die Jacke weder zu seinem restlichen Kleidungsstil, noch zu seinem Gehalt passte. Vermutlich würde ihn sein alter Nachbar für einen Dieb halten, wenn er sie tragen würde — und um ehrlich zu sein würde Jimin sich auch wie einer fühlen. Er musste den Fremden also noch einmal treffen. Doch wie?Was Jimin nicht wusste war, dass nicht nur Hoseok und er, sondern auch der Fremde Stammgast im Mount Everest war.
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MOUNT EVEREST ― jinmin
Fanfic»Jimin saß nun allein mit Seokjin. Das verunsicherte ihn zu erst, doch dann sah er, dass ein Lächeln auf dessen Lippen lag und zum ersten Mal an diesem Abend vergaß er, dass er es eigentlich nicht mochte, fremden Menschen in die Augen zu schauen.« ―...