iglos und piraten.

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SCHNEEBERGE lagen am Straßenrand. Die Räumungsfahrzeuge hatten die Fahrbahnen schon in den frühen Morgenstunden vom gräulichen Schneematsch befreit, der sich dort in den letzten Tagen gebildet hatte. Es bot kein besonders winterliches Bild, aber Jimin freute sich trotzdem. Schon allein, weil es die Stadt so verändert wirken ließ; fast wie eine Fantasy-Landschaft.

Als Seokjin hatte ihn vor ungefähr einer halben Stunde abgeholt und seit dem gingen sie nebenher, ihre Hände verschränkt. Ab und zu wechselten sie ein paar Worte, aber ansehen taten sie sich nie. Zwar schien Seokjin hin und wieder Augenkontakt zu suchen, doch Jimin hatte seinen Blick auf den Boden gerichtet.
Er war sich noch immer unsicher, ob er mit seinem Geständnis nicht zu voreilig gewesen war und traute sich nicht, Seokjin in die Augen zu sehen. Sonst könnte er nämlich nicht mehr aufhören, an das Gefühl von dessen Lippen auf seiner Haut zu denken.

„Als ich klein war, habe ich es geliebt, Iglos zu bauen“, erzählte Seokjin gerade und Jimin musste lächeln.
Er konnte sich nicht vorstellen, wie Seokjin früher ausgesehen haben musste und hatte auch noch nie selbst ein Iglo gebaut, aber er mochte den Gedanken trotzdem sehr.
„Darin hat man sich immer so gefühlt, als wäre man in einer anderen Welt.“ Seokjin lachte leise. „Und wahrscheinlich hat es sich auch gut angefühlt, ein eigenes Zuhause zu haben, wenn auch nur für eine kurze Zeit.“

Das Gefühl kannte Jimin, obwohl er ja eigentlich sehr wohl ein festes Zuhause gehabt hatte.
„Ich und Jeongguk haben immer—“, begann er, dann brach er ab.
Vorsichtig drückte Seokjin seine Hand, und er korrigierte sich: „Ich habe mir immer Häuser aus Decken und Stühlen gebaut, als ich klein war. Oder manchmal habe ich mich heimlich auf unser Klavier gelegt, und mir vorgestellt, es wäre ein Schiff auf dem offenen Meer.“

Jetzt war es Seokjin, der lächelte.
„Das Meer habe ich auch immer geliebt. Vor allem wenn es um Piraten ging“, berichtete er. „Sie erschienen mir so bewundernswert, dass ich immer einer von ihnen sein wollte. Sie sind frei, können hingehen, wo sie wollen, aber haben ihre Freunde immer dabei.“

„Warum bist du so oft umgezogen, Seokjin?“, fragte Jimin, aber der Angesprochene zuckte nur mit den Schulter.

„Keine Ahnung. Ich glaube, ich habe mich einfach nirgendwo gut gefühlt und nie gemerkt, dass das an mir selbst lag, nicht an den anderen Kindern, oder dem Ort, oder den Betreuern. Irgendwie habe ich lange gebraucht, meinen Platz in der Welt zu verstehen.“

„Ich mochte Piraten auch gerne“, antwortete Jimin nur, weil er nicht wusste, was er antworten sollte. Er wusste nicht mal, ob er selbst seinen Platz in der Welt auch schon gefunden hatte, oder nicht. Bei Seokjin fühlte er sich so gut, aber war er dort überhaupt willkommen? Jimin konnte nicht verhindern, diese Gedanken ständig in seinem Kopf umher zu drehen.

Eine Weile lang gingen die beiden still. Sie hatten Jimins Weg zur Arbeit eingeschlagen, weil dieser in Richtung von Seokjins Haus führte und in der Ferne konnte man schon das Bibliotheksgebäude sehen.

„Wo - ähm - sind eigentlich Taehyung und Namjoon eigentlich?“, fragte Jimin schließlich, halb aus Neugier und halb, um die Stille zu brechen.

„Bei Taehyungs Mutter. Heute ist ja sein Geburtstag, und da fährt er sie immer besuchen“, erklärte Seokjin.
„Sie kann selbst nicht her kommen, weil es ihr schwer fällt, sich allein fortzubewegen, und ich glaube, Taehyung macht es meistens auch ziemlich traurig, sie zu sehen. Ihr Verhältnis ist ein bisschen schwierig, schätze ich. Deshalb fährt er nur zu den Geburtstagen hin. Aber wenn Namjoon dabei ist, geht es, denke ich.“ Er lächelte sanft und Jimin glaubte darin zu erkennen, wie wichtig Taehyung Seokjin war.

„Kennst du seine Mama auch?“
Jimin wusste nicht genau, warum er das fragte, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass er sie selbst gern kennen würde. Ob sie wohl genauso lieb wie Taehyung war?

„Ja, ich war auch schon paar mal dabei, als Taehyung sie besucht hat. Aber dieses Jahr bin ich hier geblieben, weil—“, er räusperte sich, „weil ich gern noch Zeit mit dir verbringen wollte.“

Jimin konnte nicht verhindern, rot zu werden. Er hatte das Gefühl, er müsste sich langsam an Seokjin gewöhnt haben — an dessen Nähe, dessen Worte und seine eigenen Gefühle ihn gegenüber. Aber er wurde noch immer so rot wie am ersten Tag.
„D-Danke“, antwortete er unbeholfen, und sah zum ersten Mal an diesem Tag auf.

Seokjin sah ihn ernst an und es wirkte, als wollte er etwas sagen, aber Jimin hatte etwas (oder besser gesagt jemanden) hinter ihm entdeckt und bemerkte es nicht.
„Oh, da— da ist Yoongi.“

„W-Wo?“, fragte Seokjin überrascht und drehte sich in die Richtung, in die Jimin guckte.
Und tatsächlich: dort stand er. Hinter den Fenstern der Bibliothek zeichnete Yoongi sich eindeutig ab und blickte sie an.

Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Jimin wusste nicht, wie Seokjin auf seinen alten Freund reagieren würde und ob er es bereuen sollte, ihn auf diesen hingewiesen zu haben. Sie beide starrten nur auf Yoongi, und dieser starrte zurück.
Dann brach er den Bann, in dem er seine Hand hob, und ihnen winkte.

Diese Geste erleichterte Jimin, auch wenn er nicht wusste, womit er sonst gerechnet hätte.
Seokjin erwiderte den Gruß, aber er ließ Jimins Hand dabei nicht los, was sich ziemlich gut anfühlte. Auch wenn er es nicht sehen konnte, war er sich ziemlich sicher, dass auch Yoongi jetzt lächelte.

Als er sich umdrehte, um wieder zwischen den Reihen zu verschwinden, hatte Jimin das Gefühl, einen kleinen Jungen zu sehen, der ihm folgte. Jeongguk lief hinter Yoongi her, über die Teppiche, die denen in ihrem Elternhaus so ähnelten. Als er an den großen Fensten vorbeikam, hielt er kurz an. Seine Hand wirkte so unendlich klein, als er seinem großen Bruder zum Abschied winkte, aber dieser fühlte sich, als würde ihm ein Stein vom Herzen fallen.

Sowohl Seokjin als auch Jimin schwiegen, als sie weitergingen, doch das war in Ordnung. Sie waren wohl beide in ihre Gedanken vertieft, aber es fühlt sich nicht einsam an, weil sich ihre Hände immer noch berührten. Jimin gab das mehr Sicherheit, als er je gedacht hätte. Jeongguk war gegangen, aber er war nicht mehr allein.

Das Bild von ihm blieb Jimin im Kopf hängen, aber im Gegensatz zu den anderen Erinnerungen an seinen Bruder schmerzte es nicht.
Der kleine Junge hatte so glücklich ausgesehen, wie es sich Jimin immer für ihn gewünscht hatte. Würde er noch leben, hätte Jeongguk die Bibliothek bestimmt geliebt. Dort passte er hin.
Jimin wusste, dass dies das letzte Mal gewesen sein würde, das er seinen kleinen Bruder gesehen hatte, aber das war okay.
Jeongguk war Zuhause, und Jimin endlich bereit, ihn loszulassen.

﹙+﹚

goodbye, jeongguk!! (and yoongs, at least for this story)

thank you for reading,
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MOUNT EVEREST ― jinminWo Geschichten leben. Entdecke jetzt