Kapitel 2 - Beginn

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Punkt 7:00 Uhr riss mich der Handywecker aus meinem zermürbenden Traum. Noch vollkommen durch den Wind rollte ich zur Seite und würgte die Stimme des Sängers ab, bevor dieser sein volles Stimmvolumen erreichen konnte. Man musste sich nicht schon am ersten Tag unbeliebt machen.

Langsam trottete ich ins Badezimmer und schälte mich aus meinem Schlafanzug. Mit einem kurzen widerspenstigen Zischen sprang die Dusche an. Gedankenverloren legte ich den Kopf in den Nacken und genoss das sanfte Prasseln des heißen Wassers auf meiner Haut, während mein Herzschlag zögerlich zur Normalität zurückkehrte. Die Tagesaussichten waren in Ordnung. Am Morgen standen die letzten organisatorische Verpflichtungen an, bevor ich offiziell mit dem Unterricht beginnen konnte. Alles in allem also ein ganz normaler Schultag an einer neuen Schule. Abgesehen von der seit Tagen anhaltenden Appetitlosigkeit. Aber das Essen ein weiteres Mal ausfallen zu lassen, kam nicht in Frage. Ich wollte an meinem ersten Tag keinen schlechten Eindruck hinterlassen, weil ich unkonzentriert war. Kurzentschlossen stellte ich das Wasser ab und beeilte mich angesichts der fortgeschrittenen Zeit mit der restlichen Morgenroutine.

In die traditionsgemäße Uniform bestehend aus einem weißen Hemd und dunkelblauen Shorts gekleidet verließ ich mein Zimmer. Augenblicklich drang ein Meer von Stimmen an mein Ohr und machte die Hoffnung, ein ungestörtes Frühstück genießen zu können, zunichte. Von überall her strömten blau-weiß gekleidete Schüler zu dem plötzlich schmal gewordenen Treppenaufgang und vergaßen vor lauter Schnattern die Welt um sich herum. Um die Gefahr zu minimieren, umgerannt zu werden, quetschte ich mich notgedrungen am äußersten Rand der Treppe entlang. Ich hatte gerade die erste Windung erreicht, da bemerkte ich eine unvermittelte Bewegung im Augenwinkel. Ein Junge hatte sich einer der Schülergruppe genähert und diese zum Zerbersten gebracht. Wie eine Krone stach sein goldener Haarschopf über den Köpfen der Menge hervor. Lässig hatte er die Hände in den Taschen seines grauen Hoodies vergraben und schien von seiner Umgebung keine große Notiz zu nehmen. Diese nahm ihn dafür umso mehr zur Kenntnis. Das Schauspiel wiederholte sich noch einige Male, bis er aus meinem Blickfeld verschwunden war. Gerade noch rechtzeitig richtete ich meinen Blick wieder nach vorne. Ein kleines Mädchen war unvermittelt vor meine Füße gesprungen und ließ mich in der letzten Sekunde einen Satz zur Seite machen. Die Person neben mir hatte nicht so viel Glück wie das Mädchen. Mit einem dumpfen Schlag bekam sie meine gesamte Körperkraft zu spüren und geriet gefährlich ins Wanken. Instinktiv packte ich den Jungen am Arm, um einen Sturz zu verhindern, doch dieser hatte sich längst gefangen und blickte nur etwas verdutzt drein. Verlegen ließ ich ihn los.

„Entschuldige!"

„Macht nichts", erwiderte er und war verschwunden.

Verwundert blickte ich ihm hinterher. Er hatte ebenfalls keine Schuluniform getragen.

Im Speisesaal angekommen, hielt ich Ausschau nach den beiden Jungen, konnte jedoch keinen von ihnen entdecken. Auch von Noore war keine Spur. Nicht dass ich lange gesucht hatte. Ich hatte nicht wirklich vorgehabt mich zu ihr zu setzen, doch mein Gewissen hatte verlangt, es wenigstens zu versuchen. So ließ ich mich mit einem spärlichen Frühstück abseits des Trubels nieder, bevor ich mich wenig später auf den Weg zur Verwaltung machte, um meinen Stundenplan entgegen zu nehmen.

„Herein!" Ein mittelalter Mann saß am Kopfende des Raums und musterte mich fragend über seinen Computerbildschirm hinweg. Sein streng zurück gegeltes Haar und die buschigen Augenbrauen unterstrichen seinen derben Ausdruck.

„Guten Morgen, Sir", sagte ich, „mein Name ist Colin Barraclaugh, ich soll mich hier melden, um meinen Stundenplan abzuholen."

Für einen kurzen Moment verengten sich seine braunen Augen, dann erinnerte er sich und zog ein Papierbündel aus der Ablage. Flink löste er das braune Band und breitete die Papiere zu mir gedreht auf dem Schreibtisch aus. Mit einer energischen Handbewegung forderte er mich auf, mich zu setzen.

Ashwood MinorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt