Kapitel 25 - Sieben Familien

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Mit einer Ruhe und Ernsthaftigkeit, wie ich sie von Asher nicht anders erwartet hatte, erklärte er uns noch einmal sämtliche Grundlagen des Werwolfdaseins. Das Meiste hatte ich bereits gewusst, aber einiges neues war nicht gerade uninteressant gewesen. So kam es nicht nur vor, dass ein Träger des Werwolfgens trotz teilweiser Verwandlungen niemals eine volle Wolfgestalt erreichte, der umgekehrte Fall konnte ebenfalls eintreten. So schafften es manche Werwölfe nicht mehr zurück zu ihrer Menschengestalt, wenn der Werwolf in ihnen erst einmal die Macht ergriffen hatte. Diese armen Seelen nannte man „Lost Souls". Ein weiterer Werwolftyp und ein nicht zu unterschätzender, hatte ich Ashers eindringlichen Unterton richtig gedeutet, war der Springer. Von ihm schienen selbst die Mädchen noch nie etwas gehört zu haben. Als Asher seinen Namen nannte, erfüllte Schweigen den Raum. Wie gebannt hingen sie an den Lippen ihres Leiters, als er fort fuhr:

„Der Springer ist ein umstrittener Charakter unter den Werwölfen. Ursprünglich wurde dieser Name für Werwölfe verwendet, die sich unabhängig vom Mondzyklus verwandeln können. So gesehen also willkürlich zwischen ihren Formen „springen" können. Heute wird er aber auch für eine zweite Art von Werwolf verwendet. Diese Werwölfe besitzen sehr starke und ausgeprägte Fähigkeiten. Sie ziehen ihre Wolfsgestalt der menschlichen Form und entscheiden sich aus freiem Willen ihren Instinkten die Oberhand zu geben, was sie äußerst gefährlich macht."

„Du meinst wie Alexander Fairbairn es getan hat?", rief Kathy auf einmal aus.

„Nein", entgegnete Asher sofort. „Alexander Fairbairns Verwandlung war an den Zyklus des Mondes gebunden, das Freilassen der Instinkte geschah unter Einfluss des Vollmondes. Springer spielen nicht nach diesen Regeln. Sie unterdrücken ihre menschliche Rationalität bewusst, beziehungsweise missachten sie, was ihre Blutrünstigkeit unentschuldbar macht. Darüber hinaus zeigen sie sich oft sehr aggressiv gegenüber anderen Werwölfen, welche ihre wahre Natur vor Menschen versteckt halten. Sie sind mit Vorsicht zu genießen."

„Bist du mal einem begegnet? Oder warum bist du dir so sicher, dass solche Wölfe existieren?" Herausfordernd funkelte Chloe Asher an. Ihre blauen Augen schienen so kalt wie nie. Für eine Sekunde schwieg Asher, dann meinte er überraschend:

„Nein, bin ich nicht. Aber ich weiß aus gesicherten Quellen, dass diese Werwölfe existieren."

Seine Augen wanderten zu mir und verweilten dort, sodass ich nicht anders konnte als seinen Blick geradewegs zu erwidern. Ich hatte verstanden, was er mir damit sagen wollte. In jener verhängnisvollen Nacht hatte ein zunehmender Mond am Himmel gestanden.

„Und da ist noch etwas", sein Blick verfinsterte sich, sodass ich unmerklich zusammenzuckte. Sämtliche Härchen hatten sich aufgestellt, als ich die Kälte meinen Rücken hinab kriechen spürte. „Werwölfe haben ein natürliches Bestreben der Rudelbildung. Es dient einzig und allein der Selbsterhaltung und ist in den Genen verankert. Seit Anbeginn der Zeit wurden Rudel gebildet, egal welche Stärken ein Einzelner besaß. Unsere Rudel hier mögen bestimmt sein, doch in der Natur ergibt sich die Rangordnung durch andere Methoden, auch durch Kämpfe. Ein nicht zu unterschätzender Punkt dabei ist die Verbindung von gebissenen Werwölfen zu ihrem Erschaffer. Es hat mit der Natur des Bisses zu tun. Neugeborene Werwölfe sind ängstlich, sie wissen nicht was mit ihnen geschieht, ihr Erschaffer ist die einzige Hilfe, die sie erwarten können, daher erkennen sie diesen instinktiv als ihren Alpha an, ob er es nun bleibt, oder nicht."

Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass die Warnung nicht dem Rotäugigen galt, sondern mir allein. Eine ernüchternde Erkenntnis. Asher vertraute mir wirklich nicht. Was hatte ich auch erwartet? Ich war und blieb unberechenbar.

„Ursprünglich lebten Werwölfe in Familienverbänden. Wie bei freilebenden Werwölfen waren die Eltern die Oberhäupter, bevor die jüngeren Generationen irgendwann übernahmen. Fortpflanzung fand damals nur unter Werwölfen statt, die Paarung mit Menschen war verpönt. Unter diesen Familienverbänden taten sich sieben Familien maßgeblich hervor und bilden daher einen essentiellen Teil der Geschichte der Werwölfe. Diese sieben Familien zeichneten sich durch Fähigkeiten aus, die weit über die normaler Werwölfe hinausgingen. Um ein Beispiel für solche außergewöhnlichen Fähigkeiten zu nennen: Noore Ahuja, ein Mitglied aus Team Fünf, besitzt empathische Fähigkeiten, welche es ihr ermöglichen, die Gefühle anderer Personen aktiv nachzuempfinden."

Bei diesen Nachrichten wäre mir beinahe der Mund aufgeklappt. Noore besaß empathische Fähigkeiten? Was bedeutete das? Sowas gab es? Warum hatte sie es nie erzählt? War sie deswegen so gut in emotionalen Gesprächen?

„Ein weiteres Beispiel für einen Werwolf mit besonderen Fähigkeiten und darüber hinaus noch ein Beispiel für einen reinerbigen Nachkommen einer der sieben Familien ist Carlson, Leiter von Team 3."

Als Asher Carlsons Namen sagten, zuckte Chloe unmerklich neben mir, als hätte ihr etwas einen seichten Stromschlag versetzt. Verwundert musterte ich sie, doch alles was ich bekam, war ein vernichtender Blick.

„In Carlsons und Noores Fall wissen wir von ihren besonderen Fähigkeiten, bei vielen anderen Werwölfen ist dies nicht der Fall. Heute kommen nur sehr wenige reinerbige Nachkommen der Familien vor. Viele Blutlinien sind verloren gegangen. Das zumindest vermutet man. Doch wie Carlsons Beispiel zeigt, ist diese Annahme fahrlässig. Es kommt zwar äußerst selten vor, doch sollte sich ein Werwolf als Abkömmling einer der sieben Familien herausstellen, ist höchste Vorsicht geboten, solange man die Ausmaße seiner Fähigkeiten nicht kennt." Ein letztes Mal mahnte mich sein Blick.



Zum Abschluss unseres Treffens zeigte mir mein Team noch die Tunnel, welche sich unter dem Gebäude entlang schlängelten und schließlich in der Ruine das Tageslicht erblickte. Oder eben nicht, nahm man die falsche Abzweigung. Eine Treppe, breit genug, dass die Pfoten eines mannshohen Tieres darauf Platz hatten, führte versteckt hinter einem großen Spiegel im zweiten Stock hinunter in das unterirdische System. Was sich zu Anfang noch als recht simpel gestaltete, wurde mit jeder Stufe anstrengender. Ab einer gewissen Tiefe kühlte die Luft zunehmend ab und legte sich schwerer auf die Lunge. Ein modriger Geruch, welcher von Sekunde zu Sekunde an Intensität gewann, erfüllte meine Nase. Feuchtigkeit war in die schwach beleuchteten Gänge eingedrungen und hatte den Boden mit schmutzigen Pfützen übersät. Ich hatte große Mühe Ashers Worten zu folgen, während ich mir die breiten Türen einprägte und gleichzeitig versuchte meine nicht ganz wasserfesten, weißen Turnschuhe trocken zu halten. Nach kurzer Zeit musste ich mich geschlagen geben. Mit einem lauten Platschen, welches in einem unnötig langen Echo von den Wänden widerhallte, landete ich in einer nicht untiefen Pfütze. Fluchend sah ich auf meinen braunen, nun unangenehm erfrischenden Schuh. Die anderen schenkten meinem Missgeschick keinerlei Beachtung. Sie hatten vor einer Tür Halt gemacht und warteten ausschließlich auf meine Aufmerksamkeit. Verlegen kratzte ich mich an Kopf, während ich zügig zu ihnen aufschloss. Kaum war ich in Reichweite, zog Asher die Tür auf und betätigte einen Schalter. Mit einem Klacken sprangen die LED Röhren an und erhellten den geräumigen Raum. Trotz der Imitation des Tageslicht, wirkten die nackten Wände eher wie ein Verlies oder ein Krankenhaus. Ein paar karge Stellwände am anderen Ende waren der einzige Schmuck im Zimmer, was ihnen automatisch eine bedeutende Rolle zusprach.

„Das ist der erste und letzte Raum, den wir an Vollmond aufsuchen werden", erklärte Asher, „hier werden wir uns verwandeln. Hinter den Stellwänden befinden sich Umkleiden."

„Umkleiden?", fragte ich verdutzt und bereute mein vorlautes Mundwerk im nächsten Moment. Mit verächtlich hochgezogener Braue starrte mich Chloe an, Kathy und Allie schmunzelten über meine Unschuld. Asher verzog als einziger keine Miene. Er wollte meine Frage bereitwillig beantworten, doch ich unterbrach ihn schnell.

„Schon gut, ich weiß, wofür die Dinger sind."

Damit war unser Ausflug beendet und mit ihm das Treffen. In Gedanken versunken stapfte ich die lange Treppe wieder hinauf. Die anderen waren in den Tunneln zurück geblieben, um noch etwas für Vollmond vorzubereiten. Das gab mir Zeit, die Geschehnisse und das Gelernte Revue passieren zu lassen.

Grimm, MacMillan, Jedynak. Das waren die drei Namen, welche mir von den Familien im Gedächtnis geblieben waren. Wenn ich mich nicht täuschte, stand in einem der Büchern aus der Bibliothek mehr zu diesem Thema. So wie Asher auf den Familien beharrt hatte, lohnte es sich vermutlich, nochmal einen Blick auf die Familien zu werfen. Ich hielt inne und zog mein Handy hervor, um die Zeit zu checken. Ich musste mich beeilen! Trotzdem zögerte ich. Doch wer sollte mich schon sehen? Unser Flur war mindestens genauso verlassen wie der dritte Stock. Ich wusste nicht einmal, ob hier irgendwelche Normalsterblichen verkehrten. Trotzdem! Vorsicht war besser als Nachsicht!

Ich lauschte. Erst als ich mir sicher war, dass niemand in unmittelbarerNähe war, drückte ich die schwere Tür auf und trat hinaus in den lichten Flur.Leise glitt der Spiegel an seinen ursprünglichen Ort. 

Ashwood MinorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt