Kapitel 23 - Wissen

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Ich hatte meinen Vater wirklich anrufen wollen, doch am Ende hatte ich mich dagegen entschieden. Ich wollte Eleanor Zeit geben, meinem Vater von unserer Unterredung zu erzählen, bevor ich das Gespräch mit ihm suchte und gleichzeitig meine Gefühle sortieren, um hinderliche Gefühlsausbrüche zu vermeiden. Darüber hinaus hatte ich einen weiteren Plan gefasst, welchen ich schnellstmöglich in die Tat umsetzen wollte. So machte ich mich am nächsten Morgen noch vorm Frühstück auf den Weg zur Bibliothek. 

Meterhohe Regalen reihten sich dicht an dicht, manchmal unterbrochen von alten Wandteppichen oder Sesseln für Schüler, die Einsamkeit der Gesellschaft anderer vorzogen. Alles in allem ein beeindruckender Raum mit einer gewissen Schwere. Die Bürde des Wissens, dachte ich bei mir und musste schmunzeln.

Wo sollte ich anfangen? In alle Himmelsrichtungen gingen die Regalreihen ab. Mein Augenmerk fiel auf ein kleines Metallschild an der Seite. „Horror". Ich beugte mich um die Ecke und entdeckte einen weitbekannten Horrorroman mit einem Clown. Okay, das war schon mal ein Anfang.

Langsam ging ich Reihe für Reihe ab und überprüfte die verschiedenen Schilder, bis ich irgendwann glaubte, fündig geworden zu sein. Ich stand vor einem Regal mit dem Titel „Wissen". Der Begriff war sehr weit gefasst, erschien mir aber von dem bisher Gesehenem am ehesten meiner Suche zu entsprechen. Langsam suchte ich Zeile für Zeile ab.

Zuerst kamen gesellschaftswissenschaftliche Themen, bevor naturwissenschaftliche Bereiche überhandnahmen. Nichts, das einzige Buch, welches noch ansatzweise zu meinem Thema gepasst hätte, war ein Buch über die Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Wolf von irgendeinem Autor mit unaussprechlichem Vor- und Nachnamen. Seufzend gab ich mich geschlagen und suchte noch die restlichen Regale ab. Bei Autobiographie nahm ich mir ein weiteres Mal Zeit, um die Buchrücken genauer zu überprüfen. Corran hatte damals erzählt, er hätte Adelines Tagebücher hier gelesen, also mussten die irgendwo stehen.

Nichts, kein einziges Tagebuch war zu finden. Waren die Bücher vielleicht ausgeliehen? Ab und an hatte ich eine Spalte zwischen den aneinander gepressten Büchern entdeckt, welche auf ein fehlendes Exemplar hingedeutet hatte. Oder hatte ich am falschen Ort gesucht? Ich ging zurück zum Anfang und warf einen Blick zur Bibliothekarin. An der Wand hinter ihr tat sich eine nahezu unsichtbare Tür auf. Ein Büro? Oder vielleicht doch ein weiterer Raum mit Büchern? Ich wusste, dass die Tagebücher existierten und ich wusste, dass es in einer Schule für Werwölfe Bücher zur Lykanthropie geben musste. Authentische Bücher. Nur eine Sache hatte ich nicht bedacht - Lykanthropie war ein Geheimnis.

„Verzeihen Sie die Störung, ich bin auf der Suche nach Büchern über Lykanthropie", erklärte ich der schmächtigen Dame mit dem freundlichsten Lächeln, das ich besaß. „Können Sie mir weiterhelfen?"

Die stechenden Augen der Bibliothekarin verengten sich schlagartig. Ich erschauerte.

„Name?"

„Colin Barraclaugh."

Kaum hatte der Name meine Lippen verlassen, tippte ihn die Dame ein und kurz darauf sprang eine Seite auf, wie ich der wechselnden Spiegelung in ihrer Brille entnehmen konnte. Sie schwieg einen Moment, als sie sich meine Daten genauestens einzuprägen schien, dann hob sie den Kopf.

„Warum möchten Sie ein Buch zu diesem Thema?"

Damit hatte ich nicht gerechnet. Corran hatte nicht erwähnt, dass man einen Grund braucht, um sich die Bücher ansehen zu dürfen. Für einen kurzen Moment verspürte ich das Bedürfnis zu behaupten, Eleanor oder Corran hätten mir den Auftrag gegeben, einfach um meine Chancen die Bücher tatsächlich zu bekommen, zu erhöhen. Doch ich traute der Dame zu, zum Kabeltelefon neben sich zu greifen und die genannte Person höchstpersönlich zu fragen, ob so ein Auftrag tatsächlich bestand. Daher beschloss ich vorerst bei der Wahrheit zu bleiben.

Ashwood MinorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt