Kapitel 1 - Ankunft (1. Teil)

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Nachdenklich betrachtete ich die vorbeifliegenden Bäume. Mit jeder Sekunde, die wir unserem Ziel näherkamen, wuchs mein Bedauern. Ich blickte auf und erhaschte die dunklen Augen meines Vaters im Rückspiegel. Die Schuld in seinem Blick war unverkennbar. Ich seufzte stumm. Auch wenn ich ihm keine Vorwürfe für seine Entscheidung machte, hätte ich mir gewünscht, wir hätten eine andere Lösung gefunden...

Der Wald war verschwunden, eine leuchtend grüne Wiese hatte die gesamte Fläche eingenommen. Fasziniert beugte ich mich vor und hielt prompt den Atem an. Am Horizont thronte ein gigantisches Herrenhaus. Hell erstrahlte sein sandfarbener Stein im Antlitz der Sonne und für einen Moment glaubte ich, er selbst wäre die Lichtquelle. Noch bevor ich mich vom Anblick losgesagt hatte, hatte mein Vater bereits das Auto abgestellt und kam herum geeilt. Das alles tat er so schnell, dass ich noch nicht einmal meinen Gurt gelöst, geschweige denn meine Kopfhörer weggepackt hatte. Schwermütig zog ich mir die Stöpsel aus dem Ohr und ließ mir aus dem Wagen helfen.

„Geht's?", fragte mein Vater sorgenvoll, als ich nach meinem Rucksack griff und ihn mir über die Schulter warf.

„Passt schon", erwiderte ich knapp und schlug unbedacht die Tür zu. Prompt verzog ich das Gesicht, konnte den verräterischen Griff an die Schulter aber gerade noch verhindern.

„Können wir?"

„Wir müssen da entlang!", er deutete auf ein riesiges, geöffnetes Portal zwischen kolossalen Pilastern. Skeptisch betrachtete ich die Pforte, die mit ihren dunklen Flügeln ein regelrechtes Loch in der Wand bildete und spürte das Bedauern in mir abermals wachsen. Kurzerhand schluckte ich meine Bedenken hinunter und ließ mich bereitwillig von meinem Vater hinein geleiten. Eine gigantische Halle mit weißen Marmorfließen und meterhohen Säulen empfing uns im Inneren. Zu der Linken erhob sich eine mächtige, geschwungene Treppe in die Höhe. Wortlos starrte mein Vater nach oben und ich kam nicht umher seinem Blick zu folgen. Dort wo die Decke hätte sein sollen, thronte eine gigantische Glaskuppel, welche die Sicht auf den strahlend blauen Himmel freigab. Wow! Ich war baff...

„Verzeihung, kann man Ihnen behilflich sein?", riss uns eine Stimme aus dem Staunen. Überrascht fuhren wir herum und entdeckten einen in die Wand eingelassenen Tresen. Dahinter saß eine ältere Dame und musterte uns mit winzigen Augen über ihre Brille hinweg.

„Verzeihung!" Sichtlich beschämt bugsierte mich mein Vater zu der Frau hinüber.

„Guten Tag, mein Name ist John Barraclaugh. Wir möchten zu Miss Adams, wir haben einen Termin. Es geht um meinen Sohn."

„Verstehe." Sie musterte mich kurz, bevor sie zum Hörer griff. Ich grinste in mich hinein. Ein Blick in ihr Gesicht genügte, um zu wissen, dass ich hier nicht hergehörte.

„Ich gebe Ihre Anwesenheit durch, bitte haben Sie noch einen Moment Geduld. Dort drüben ist eine Bank, wenn Sie sich setzen möchten." Sie deutete auf eine steinerne Bank am Kopfende des Raums, bevor sie den Blick wieder senkte. Sichtlich verunsichert durch ihr abweisendes Verhalten, klopfte mein Vater einmal auf den Tresen, dann packte er mich mit einem flüchtigen Danke am Arm und zog mich von dannen.

Kaum hatten wir die Bank erreicht, half er mir aus meinem Rucksack, damit ich mich setzen konnte. Doch selbst als ich ihm extra Platz machte, blieb er stehen und betrachtete gedankenverloren die Halle. So war es beinahe eine Erleichterung, als eine sportliche Blondine erschien und nach kurzem Gespräch mit der Empfangsdame in unsere Richtung kam.

„Guten Tag, mein Name ist Eleanor Adams. Ich bin die Direktorin unseres bezaubernden Ashwood Minor", stellte sie sich mit melodischer Stimme vor und reichte meinem Vater die Hand. „Sie sind die Familie Barraclaugh?"

„Freut mich sehr!", sagte mein Dad und fügte anerkennend hinzu: „Ja, das Gebäude ist wirklich eindrucksvoll."

Distanziert beobachtete ich die beiden. Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte geglaubt, ich beobachtete das Wiedersehen alter Bekannter.

„Du musst Colin sein, freut mich sehr Dich kennenzulernen", breit lächelte mich Eleanor an. Dann hatte sie sich mit einem Mal umgedreht und meinem Vater zärtlich die Hand auf den Oberarm gelegt.

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Colin gerne herumführen lassen. In der Zwischenzeit können wir in Ruhe die Einzelheiten besprechen."

Ich gefror. Baggerte die Dame gerade allen Ernstes meinen Vater an, während ich direkt daneben saß? Ich biss mir auf die Backe. Meinen Vater schien diese vertraute Geste nicht weiter zu stören, was meinen Magen krampfen ließ. Ich biss mir auf die Lippe.

„In Ordnung", willigte er ein und ließ mich vollkommen leer zurück.

Eleanor nickte. „Colin, ich werde jemanden kommen lassen, der Dich herumführt. Bitte habt noch einen Moment Geduld."

Mit diesen Worten machte sie kehrt und war verschwunden.

„Colin...", Dad war vor mich getreten.

Fragend erwiderte ich seinen Blick und fand mich im nächsten Moment in seinen Armen wieder. Überrascht legte ich ihm eine Hand auf den Rücken, zu mehr war ich nicht im Stande. Als mein Vater merkte, wie ich mich verspannte, ließ er mich los und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Im nächsten Moment stand Eleanor wieder neben uns, einen jungen Mann im Schlepptau. Sein dunkles Haar war glatt nach hinten gegelt, die hellen Augen schimmerten überheblich und etwas vergrößert hinter den Gläsern seiner brandneuen Markenbrille.

„Colin, das ist David Austin. Er wird Dich mit dem Ablauf hier vertraut machen und Dir dein zukünftiges Zimmer zeigen", stellte Eleanor ihn sogleich vor. „Falls Du Fragen haben solltest, wird er sie gerne beantworten. Ansonsten stehen Dir das Personal und ich jederzeit gerne zur Verfügung."

Sie schenkte mir ein strahlendes Lächeln, skeptisch blickte ich zurück. Als Austin sich gefühlt jeden Pickel von mir eingeprägt hatte, reichte auch er mir die Hand.

„Freut mich Dich kennenzulernen, Colin. Es wird mir eine Freude sein, Dich herumzuführen." Er lächelte schmierig.

„Gut, dann könnt Ihr direkt loslegen. Das Abendessen beginnt in etwas mehr als drei Stunden und noch ist Unterricht, die Ruhe sollte man nutzen." Eleanor zwinkerte mir verschmitzt zu. „Ich werde in der Zwischenzeit mit Deinem Vater sprechen. Viel Erfolg an unserer Schule, Colin!"

Mein Vater hatte stumm zugehört, nun war er nach vorne getreten und blickte mir fest in die Augen.

„Ich schätze, das war es jetzt. Von nun an bist du auf dich allein gestellt...", seine Unterlippe zitterte merklich. „Ruf mich bitte von Zeit zu Zeit an und sag mir, wie es dir geht. Mach's gut Großer."

Liebevoll strich er mir übers Haar, so wie er es immer getan hatte, als ich noch ein Kind gewesen war. Dann machte er kehrt und folgte Eleanor in einen Seitentrakt.

Schweigend nahm ich meinen Rucksack von der Bank. Austin war aufbruchbereit neben mich getreten, doch ich ignorierte ihn. Warum hatte ich das merkwürdige Gefühl, Eleanor schon einmal gesehen hatte?

„Ist das alles, was Du hast?", fragte Austin zuckersüß. Es war offensichtlich, wie sehr es ihn nervte, dass ich er nicht meine volle Aufmerksamkeit hatte. Dafür zeigte ich ihm aus Prinzip noch ein paar Sekunden die kalte Schulter, bevor ich schließlich beigab. Augenblicklich erstrahlte seine selbstgefällige Visage.

„Gut, dann lass uns loslegen, damit wir pünktlich zum Abendessen fertig sind!"

Mitdiesen Worten wirbelte er herum und schritt durch die Halle.

Ashwood MinorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt