2. Kapitel: Die Unannehmlichkeiten eines Teebesuchs

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Nach ihrer Mittagsstunde war Mrs Doyle beim Tee recht gesprächig, sodass ich noch einiges in Erfahrung bringen konnte.
Eine entscheidende Frage, die ich noch hatte, war natürlich, wieso ihr Mann die Informationen nicht einfach vernichtet hatte.
Auf die Frage hin warf sie mir einen bösen Blick zu, bevor sie antwortete: „Wie du weißt, war Richard sehr hilfsbereit und spendabel. Du bist nicht die einzige, der er mal aus der Patsche helfen musste, Julie. Diese Informationen sicherten das Leben vieler Menschen ab."
Diese Worte genügten mir voll und ganz, wusste ich doch, dass man Mrs Doyle nicht weiter fragen sollte, sobald sie auf der persönlichen Ebene zu argumentieren begann. Zudem hatte ich keinerlei Interesse daran, die Schicksale fremder Menschen zu durchwühlen. Mr Doyle mag einen Drang dazu gespürt haben, Menschen, die er gernhatte, mit allen möglichen Mitteln zu helfen, doch wer diese Leute waren, musste ich wirklich nicht wissen.

Als das Gespräch wieder auf den Brief kam, wurde Mrs Doyle mit einem Mal wieder deutlich freundlicher, was mich sofort in Alarmbereitschaft versetzte. Nach dem, was ich an diesem Tag von ihr erfahren hatte, wusste ich schließlich, dass auch diese scheinbar unschuldige ältere Dame mich durchaus in Konflikte verwickeln könnte.

„Bei dem Brief liegt der Kern des Problems", begann Mrs Doyle seufzend und setzte ihre Teetasse samt Untertasse auf dem Wohnzimmertisch ab, um sich zu erheben.
Sie ging zu dem alten Sekretär, der gleich an der Tür des Wohnzimmers stand und öffnete ihn, um einer der kleinen Schubladen besagten Brief zu entnehmen.
Als sie ihn mir dann tatsächlich in die Hand drückte, war ich tatsächlich sehr überrascht. So vertraulich war Mrs Doyle selten mit mir umgegangen, doch ich sprach es lieber nicht an. Die Geschwindigkeit, mit der die Dame ihre Meinung ändern konnte, wollte ich nicht herausfordern.

Der Inhalt des Briefs war keine große Überraschung.
Was mich viel mehr verwunderte und zugleich verunsicherte, waren die scheinbare Dringlichkeit und der offizielle Ton, welche dem Schreiben anhafteten. Auf dem Briefpapier war das Logo des Secret Intelligence Service, des MI6, abgedruckt, was zwar nicht weiter erstaunlich war, schließlich bedeuteten solche offiziellen Schreiben zumeist nicht viel. Dennoch war der Brief gleichzeitig in einem den Umständen entsprechend recht persönlichen Ton verfasst worden, was darauf schließen ließ, dass es sich nicht nur um eine Formsache handelte.
Eine weitere Sache, von der Mrs Doyle mir nicht erzählt hatte, waren die scheinbaren Versuche, sie zu erreichen, welche in dem Brief erwähnt wurden.

„Warum haben Sie denen nicht einfach gesagt, dass sie von nichts wissen und Ihr Mann Ihnen keinerlei Dokumente hinterlassen hat?", fragte ich, während ich mir den Brief noch einmal ansah und mit ein wenig Bewunderung über das dicke Briefpapier strich. Als ich es gegen das Licht hielt, erkannte ich, dass das Logo des MI6 tatsächlich auch in das Papier geprägt worden war.
„Die machen sich ja ziemlich viel Arbeit für so einen kleinen Brief", stellte ich laut fest, bevor ich den Brief wieder zusammengefaltet in den weißen Umschlag schob, der nichts über den Inhalt vermuten ließ. Nur die Tatsache, dass er nicht frankiert worden war, also persönlich eingeworfen worden sein musste, deutete auf seine offensichtliche Wichtigkeit hin.
Als ich Mrs Doyle wieder erwartungsvoll entgegenblickte, betrachtete sie mich mit einem durchbohrenden Blick, der mir beinahe unangenehm war. Nachdem sie meinen Blick jedoch bemerkt hatte, setzte sie wieder einen neutralen Gesichtsausdruck auf und nahm mir den Brief ab. Vielleicht bereute sie es nun doch, ihn mir gezeigt zu haben.
„Kindchen, wie oft habe ich diese Leute versucht abzuwimmeln! Natürlich glauben die mir nicht, wenn ich ihnen sage, dass ich keine Ahnung von irgendetwas habe. Diese Leute sind leider zu schlau und hartnäckig, um mir die alte, senile Frau abzukaufen", beantwortete sie dann endlich meine Frage. Ich verzog etwas unzufrieden den Mund, als mein Blick wieder auf den Brief fiel.
„Und was meinen die mit den vielen Versuchen? Irgendwann werden die doch auch erkannt haben, dass sie bei Ihnen mit Anrufen und Briefen zu nichts kommen", erkundigte ich mich weiter, woraufhin sich auf Mrs Doyles Lippen ein kleines, selbstsicheres Lächeln ausbreitete.
„Sie waren doch schon mehrmals hier", entgegnete sie dann nur und ihr Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, als sie meinen verwunderten Blick sah.
„Erst letzte Woche habe ich dir doch einmal gesagt, dass du die Tür nicht öffnen sollst", erklärte sie scheinheilig, woraufhin ich mich mit einem etwas verzweifelten Seufzen von ihr abwandte. Diese Frau war einfach unverbesserlich.
Ich fuhr mir mit der Hand einmal über das Gesicht, bevor ich wieder zu ihr sah.
„Ich dachte, dass wären irgendwelche Bekannten, die Sie nicht sehen wollten. Sie können mir doch nicht verbieten, die Tür zu öffnen, wenn der Nachrichtendienst anklopft!", erwiderte ich nun beinahe verzweifelt und vergrub mein Gesicht daraufhin in meinen Händen.
Es war einfach unglaublich, wie Mrs Doyle mit diesem undankbaren Erbe ihres Mannes umging. Wie konnte sie den britischen Geheimdienst mehrmals vor der Tür stehen lassen und das auch noch so gleichgültig ertragen?
„Natürlich kann ich dir das verbieten. Du arbeitest schließlich für mich", lautete die fast entrüstete Antwort, die mich wieder nur den Kopf schütteln ließ.

Lügenleben || Mycroft HolmesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt