19. Kapitel: Die Ruhe vor dem Sturm

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Es hatte mich überraschend wenig Überwindung gekostet, Mycroft meine Angst zu gestehen und ich wusste sofort, dass es das Richtige gewesen war. Er blickte mir ehrlich entgegen und nickte nach einigen Sekunden nachdenklich. Ich wusste, dass es das Richtige gewesen war, mich Mycroft immerhin ein wenig zu öffnen, auch wenn es keine denkbar schlechtere Lebenssituation dafür gegeben hätte.
„Ich habe das Gefühl, dass ich mir selbst nicht mehr vertrauen kann. Ich zweifle langsam einfach an meinem Verstand", fügte ich leiser hinzu und trotz der Geräuschkulisse wusste ich, dass mein Gegenüber mich verstanden hatte. Ein beinahe schuldbewusster Ausdruck huschte über sein Gesicht, bevor er den Blick auf sein Glas richtete, das er zu schwenken begann.
„Das sollst du auch", lautete die für mich undurchsichtige Antwort, die mich die Stirn runzeln ließ. Mycroft starrte noch kurz auf sein Glas, bevor er den Blick wieder hob und sich räusperte.
„Ich habe eine Vermutung, wer dahinterstecken könnte, aber ich kann gerade nicht mehr sagen", erklärte er kurz und ich merkte, dass er meinem Blick auswich.
„Moriarty?", rutschte es mir heraus und im selben Moment wusste ich, dass ich Mycrofts Redseligkeit und Offenheit damit verloren hatte. Der Unnahbare war zurück. Das erkannte ich gleich an seinem Gesichtsausdruck, als er mir dieses perfekt einstudierte, leicht überhebliche Lächeln schenkte.
„Moriarty ist tot. Das wissen Sie doch mittlerweile", erwiderte er und zog eine Augenbraue hoch, als würde er mit einem dummen, kleinen Kind sprechen.

Die Frustration baute sich langsam brodelnd in mir auf. Er war zum Siezen zurückgekehrt. Er war zur Überheblichkeit zurückgekehrt, die mir offensichtlich das Gefühl der Geringschätzung geben sollte. Aber da war noch etwas anderes: Ich war verletzt, obwohl ich genau wusste, dass Mycrofts Kälte mir gegenüber aus meiner Flucht aus seinem Schoß entstanden war. Doch woher sollte man wissen, dass ein erwachsener Mann wie ein zurückgewiesenes Kind reagierte und einem einen emotionalen Kurzschluss ewig übelnahm. Ich hatte versucht, ihm wenigstens ansatzweise mein Gefühlsleben zu zeigen und das auch nur in der Hoffnung, dass er Verständnis haben würde, dass es uns in unserem Vertrauen ineinander weiterbringen würde. Und bezahlt wurde ich mit einem Rückschritt zu dem arroganten Lackaffen, dem ich damals Mrs Doyles Haustür geöffnet hatte.
Bedauerlicherweise blieb meine Reaktion die gleiche wie früher: Ich lief weg. Bevor ich aber überhaupt den abgetrennten Bereich verlassen konnte, war Mycroft schon auf den Beinen und hielt mich wortlos am Arm zurück.
Sein Griff war fest und bestimmt. Es hätte durchaus ein wenig Willen und Kraft gebraucht, um mich von ihm zu lösen. Kurz schämte ich mich dafür, dass offenbar er es sein würde, der unseren Teufelskreis vom Einander-Annähern, Streiten und Entfernen durchbrechen sollte, während ich wieder diejenige war, die sich mit ihren Gefühlen verstecken wollte.

„Ich kann dir jetzt noch nicht mehr erzählen. Das geht einfach nicht", erklärte er leise, woraufhin ich mich langsam zu ihm drehte. In seinem Blick lag ehrliches Bedauern und ich nahm ihm diese Gefühle ab. Ich verstand nur noch immer nicht mehr als vorher.
„Das ist einfach zu viel. Ich bin in irgendetwas hineingeraten und niemand scheint auch nur zu wissen, was es ist", sagte ich zusammenhangslos und zuckte etwas hilflos mit den Schultern.
„Und ich habe Angst, dass ich für dich nur dieses Projekt bin", fügte ich mit gesenkten Augen hinzu und erhaschte nur einen kurzen Blick auf Mycrofts gerunzelte Stirn.
„Was für ein Projekt?", fragte er verständnislos und schien ernsthaft über meine Worte nachzudenken.
„Das kleine Großbritannien."
Ich dachte, dass meine Antwort einiges erklären würde und lächelte kurz über den albernen Begriff, merkte aber schnell, dass Mycroft keine Ahnung hatte, worüber ich sprach. Das Erklären machte es nur noch peinlicher.
„Ich meine, dass du mir helfen willst, weil es eine große Sache ist. Dann kannst du deine Fähigkeiten und Mittel unter Beweis stellen und gehst als Retter aus der Sache heraus, aber danach ist es dann für dich auch vorbei", erklärte ich umständlich und spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Mehr oder weniger hatte ich Mycroft damit mein Interesse an einer Sache bekundet, die über ein „Projekt" hinausging.
Er seufzte schwer.
„Hat mein Bruder das so genannt?"
Ich zuckte mit den Schultern und nickte dann einmal, bevor ich mich wieder traute, ihn anzusehen. Mycroft strich sich mit der freien Hand genervt über die Stirn, während die Hand an meinem Arm wie beiläufig höher wanderte. Gedanklich beschimpfte er seinen Bruder wohl gerade aufs schlimmste.
„Du glaubst das aber nicht wirklich, oder?", fragte er dann beinahe vorsichtig und blickte nach einer Antwort suchend zwischen meinen Augen hin und her. Ich musste schlucken, als mir bewusst wurde, wie nah wir uns endlich wieder waren. Dass Mycroft mich berührte. Mir wurde heiß, während ich nach einer schlagfertigen, gut ausformulierten Antwort suchte.
„Mycroft...", ich brach ab. Die Worte blieben mir im Hals stecken. Eigentlich gab es gar keine Worte, die ich hätte hervorbringen wollen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 06 ⏰

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Lügenleben || Mycroft HolmesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt