6. Kapitel: Auf fremden Sofas

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John hatte mir nach einigen Stunden des Redens angeboten, über Nacht bei ihnen zu bleiben. Normalerweise war ich nun wirklich kein Mensch, der sich spontan bei anderen einquartierte. Ich liebte mein eigenes Bett. Dennoch war ich an diesem Abend heilfroh darüber, nicht noch den Nachhauseweg aufnehmen zu müssen, um dann erneut meine verwüstete Wohnung betreten zu müssen, in der ich vermutlich kein Auge zubekommen hätte.

Auf dem braunen Ledersofa war es zwar nicht ganz anders, aber hier fühlte ich mich wenigstens nicht so schutzlos, was vor allem daran lag, dass Sherlock die meiste Zeit über leise Geräusche in der Küche verursachte. Ob er überhaupt schlief, konnte ich nicht sagen, da ich dann doch für ein paar Stunden einnickte.

Das Gespräch mit John hatte mir sehr gutgetan. Direkt über den Einbruch hatten wir nur kurz geredet. Ich war einfach kein Mensch, der gern über Gefühle sprach und schon gar nicht über die eigenen.
John hatte das zwar nach einer Weile verstanden, aber zu Anfang war es wirklich schwierig gewesen, schließlich hatte er immer wieder gefragt, wie es mir damit ging und was ich nun tun würde. Was sollte ich schon tun? Sicherlich würde ich mir keine neue Wohnung suchen. Das ging in London normalerweise nicht so schnell und allein hätte ich das vermutlich ohnehin nicht hinbekommen. Außerdem war ich doch den ganzen Tag mit Mrs Doyle und dem Haushalt beschäftigt.
Nein, ich würde in meiner Wohnung bleiben. Vermutlich würde das Schloss ausgetauscht werden müssen, aber nachdem die Einbrecher nichts bei mir gefunden hatten, würden sie doch sicherlich auch nicht wiederkommen.

Neben den Gedanken und Gefühlen wegen des Einbruchs und der Situation insgesamt hielten mich jedoch auch die jüngsten Ereignisse wach.
Es war eigenartig, aber es beschäftigte mich sehr, welchen Verlauf das Gespräch mit den Holmes-Brüdern und John genommen hatte. Entgegen meinen Erwartungen war ich nämlich nicht bei dem älteren Bruder auf die wenigste Sympathie und Anteilname gestoßen.
Das letzte, das er zu mir gesagt hatte, war, dass er sich um die Angelegenheiten kümmern würde. Dabei wusste ich nicht einmal genau, was er damit meinte. Sicherlich würde es auch ihn interessieren, wer offenbar noch von dem Stick wusste und so intensiv auf der Suche nach ihm war. Würde es deswegen Untersuchungen in meiner Wohnung geben?
Auch kam mir immer wieder in den Sinn, dass er mir den USB-Stick trotz allem noch nicht abgenommen hatte. Er wusste ganz genau, dass ich ihn hatte, wobei ich mit dem Vorenthalten des Sticks auch offensichtlich eine Straftat beging. Vielleicht lag es nur an seiner Rücksichtnahme, dass er es an diesem Abend nicht getan hatte. Andererseits hatte er auch gesagt, dass er gedacht hatte, der Stick sei bei mir gut aufgehoben.

Es kam mir wirklich komisch und beinahe inkonsequent vor, aber innerhalb dieser kurzen Zeit war mir Mr Holmes mit einem Mal so viel sympathischer geworden. Ich gewann während des vielen Nachdenkens immer stärker den Eindruck, dass hinter all seiner Fassade ein Mann steckte, der sich so sehr um andere kümmerte, dass es ihn zu sehr belasten würde, es zu zeigen.
Vielleicht war das auch ein Grund dafür, dass er diesen bedeutenden Job ausübte: Er fühlt sich für alles und jeden verantwortlich.
Zwar versuchte ich, diese vielen Gedanken so gut wie möglich einzudämmen, so recht gelingen wollte es mir die frühen Nachstunden über jedoch nicht.

Als ich am Morgen von einem Klirren aus der Küche geweckt wurde, merkte ich den wenigen Schlaf doch deutlich: Meine Augenlider blieben noch lange sehr schwer und ich wollte mich gar nicht unter der wolligen Decke wegbewegen. Dabei hatte ich sie noch am Abend als kratzig empfunden und in meinen Klamotten vom Vortag hätte ich mich vermutlich auch nicht so wohlfühlen sollen, wie ich es tat.
Ich wusste aber, dass ich mich für Mrs Doyle zum Aufstehen zwingen musste, um auch noch einen kurzen Abstecher in meine Wohnung machen zu können. Draußen war es zwar noch dunkel, jedoch war ich mir ziemlich sicher, dass der Londoner Berufsverkehr zu dieser Uhrzeit schon mehr als ausgelastet sein würde.

Lügenleben || Mycroft HolmesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt