5. Kapitel: Pies und andere kleine Lügen

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In den nächsten Wochen wurden die Tage kürzer und kühler. In London war der Winter nie besonders kalt, aber der beißende Wind, der hin und wieder durch die Straßen wehte, machte einem doch bewusst, dass die kalte Jahreszeit über das Land hereingebrochen war.

Mrs Doyle und ich sprachen kein einziges Mal darüber, was passiert war.
Am Tag nach der Hausdurchsuchung räumte ich – durchaus ein wenig verkatert und übermüdet – wie selbstverständlich alles auf, während die Herrin des Hauses genauso lebendig und zynisch war wie eh und je.

Ich traute mich nicht, auch nur ein Wort über den Stick zu verlieren, weshalb ich ihn einfach behielt und ihn aus Angst vor einem erneuten Besuch von John und Sherlock wieder in meinem Portemonnaie mit mir herumtrug. Irgendwann würde Mrs Doyle mir schon sagen, was ich damit tun sollte.
Sie schien das Thema jedoch vollkommen zu verdrängen und ging niemals auf eine Anmerkung meinerseits ein. Ob es an ihrer Trauer, der Angst oder einfach dem Alter lag, konnte ich nicht sagen. Aufgrund ihrer doch abnehmenden Gesundheit fühlte ich mich aber auch dazu verpflichtet, sie nicht noch weiter mit irgendetwas zu belasten.
Tatsächlich hatte der Hausarzt nun nämlich doch das ein oder andere Gebrechen festgestellt, was Mrs Doyle sehr gegen den Strich ging. Häufig warf sie mir nur vernichtende Blicke zu, wenn ich sie daran erinnerte, ihre Tabletten zu nehmen und manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie die Einnahme tatsächlich vergaß oder absichtlich verweigerte.
Natürlich machte ich mir so zunehmend Sorgen um sie, schließlich war es eine Tatsache, dass auch sie nicht mehr die Jüngste war und die kalte Jahreszeit schien ihr zudem zuzusetzen, sodass sie die meiste Zeit im Sitzen verbrachte, obwohl sie früher noch den ganzen Tag lang durch das Haus gelaufen war.

Von den Holmes-Brüdern bekam ich kaum etwas mit. Nur einmal fand ich eine schlichte weiße Visitenkarte in meinem Briefkasten, auf der lediglich der Name „Holmes" und eine Handynummer abgedruckt waren.
Ich war mir dabei ziemlich sicher, dass sie von dem älteren Bruder stammte, da Sherlock mir vermutlich einfach einen Besuch abgestattet hätte.
Mr Holmes schien die Hoffnung auf einen Hinweis von mir tatsächlich noch nicht aufgegeben zu haben und einer Eingebung folgend steckte ich die Karte zu dem USB-Stick in mein Portemonnaie. Ein ums andere Mal zog ich sie tatsächlich wieder heraus, um sie ein wenig in meinen Händen zu drehen und sie nachdenklich anzustarren. Es kam mir nämlich doch immer wieder der Gedanke daran, was passieren sollte, wenn Mrs Doyle einmal nicht mehr wäre oder ich den Stick doch irgendwie verlieren sollte.
Die Nummer wirklich zu wählen, kam mir dann aber doch jedes Mal albern vor, sodass ich es ließ und mich lieber daran erinnerte, wie anmaßend sich dieser Mann Mrs Doyle und mir gegenüber verhalten hatte.

Die Jahreszeit sorgte dafür, dass es um das alte Cottage herum weniger zu tun gab, sodass ich häufig früher zu Hause war und mehr freie Zeit hatte. Diese verbrachte ich abends nun häufig in Bars und Kneipen, wobei ich es tatsächlich hinbekam, meinen Alkoholkonsum wenigstens ein bisschen zu regeln und in Maßen zu halten. Es machte mich beinahe stolz, was mir in einigen Momenten wirklich armselig vorkam.
Denn trotz der geringen Menge trank ich häufiger: Bestimmt vier Abende in der Woche genehmigte ich mir entweder zu Hause Wein oder genoss in irgendeiner Gaststätte den ein oder anderen Longdrink oder Whisky.
Zuerst fand ich die ganze Sache nicht allzu schlimm, tröstete ich mich doch mit dem Gedanken daran, dass ich schon deutlich mehr getrunken hatte. Jedoch merkte ich bald wieder, wie sehr der Alkohol doch meinen Körper beeinflusste: Ich schlief schlecht, schwitzte nachts viel und war allgemein unruhiger. Was jedoch am schlimmsten war, war dieses erbärmliche Zittern, das ich schon damals immer so gehasst hatte. Morgens war es logischerweise am schlimmsten, aber ich bemerkte immer stärker, wie es sich auch den Tag über nicht abstellen ließ.

Bei der Arbeit konnte ich die ganze Sache dennoch recht gut ignorieren. Obwohl ich immer gereizter reagierte, wenn Mrs Doyle wieder einmal besonders viel zu meckern hatte, half es mir sehr, abgelenkt zu sein und bis zum Abend befand ich mich in einer wunderbaren Blase, in der ich mir selbst vormachen konnte, dass mir das Wissen um diesen USB-Stick und meine eigene Vergangenheit, die so eng damit verknüpft war, nicht so nahe gingen.

Lügenleben || Mycroft HolmesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt