14. Kapitel: Nova

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Stillschweigend rauchten wir, wobei ich mich doch kurz fragte, ob wir nicht lieber hätten nach draußen gehen sollen. Ich hasste es eigentlich, drinnen zu rauchen und Mr Holmes' Haus hatte bei meinem kurzen Aufenthalt nicht danach gerochen, als würde es selbst regelmäßig tun.
Dennoch beschäftigte mich sein seltsames Verhalten viel mehr.
Es war nicht nur seine offensichtliche Trunkenheit. Noch immer sah ich keinen wirklichen Grund dafür, dass ich in sein Haus kommen musste, schließlich hätte er mir die Fragen zu Moriarty auch am Telefon stellen können. Sicherlich musste jemand wie Mycroft Holmes jederzeit befürchten, ausspioniert oder abgehorcht zu werden. Aber ich war mir sicher, dass er auch seine Wege und Mittel gegen solche Angriffe hatte.

Ich warf einen verstohlenen Blick in seine Richtung, doch nun schien auch er irgendwelchen Gedanken nachzuhängen. Sein Kopf war leicht in den Nacken gelegt und er starrte an die Zimmerdecke, während er beinahe träge an der Zigarette zog.
Mit hochgekrempelten Ärmeln und gelockerter Krawatte sah Mr Holmes mit einem Mal so menschlich und gewöhnlich aus, dass ich mir kaum vorstellen konnte, dass er derselbe Mann war, der nicht nur mir, sondern auch Mrs Doyle am Anfang und leider auch danach immer wieder mit so wenig Rücksicht und Freundlichkeit begegnet war. Dass er nicht höflich war oder sich danebenbenahm, konnte man ihm natürlich nicht vorwerfen. In dieser Hinsicht waren seine Manieren und sein Verhalten tadellos.
In diesem Moment musste ich allerdings auch wieder zugeben, dass Mr Holmes eine gewisse Anziehungskraft auf mich ausübte. Vielleicht war es nur sein gepflegtes Äußeres, jedoch war ich mir in anderen Situationen sicher, dass mir ebenfalls sein Intellekt auf völlig verquere Art imponierte. Mr Holmes wusste, dass er deutlich intelligenter war als der Durchschnitt und hatte auch kein Problem damit, es anderen Menschen zu zeigen. Wieso also fand ich dieses Verhalten unbewusst attraktiv? Angeberisches Gehabe war ansonsten ein Grund für mich, schnell von einem Typen Abstand zu halten.

„Die Daten sind also gelöscht worden, weil die betreffenden Personen gestorben waren", begann Mr Holmes mit einem Mal vor sich hinzusprechen. Er hatte sich wieder aufrechter hingesetzt und zog mit grübelnder Miene an seiner Zigarette.
„Und trotzdem hat Mr Doyle den Stick aufbewahrt", fügte er dann hinzu, wobei sein Blick wieder auf mich fiel.
Beinahe synchron beugten wir uns vor, um in den bereitgestellten Aschenbecher zu aschen, was mich schmunzeln ließ. Hätte ich nicht einem Mr Holmes gegenübergesessen, hätte ich vielleicht sogar kurz aufgelacht.
Als ich jedoch kurz in sein Gesicht sah, erkannte ich, dass er meine Reaktion beobachtet haben musste und lächelte.
Er lächelte tatsächlich und es war kein Lächeln der üblichen Sorte, sondern ein ehrliches, warmes Lächeln.

Ich brauchte einen Augenblick, bis ich mich von diesem Anblick lösen konnte. Doch Mr Holmes' Augen hatten tatsächlich so etwas wie Glück in sich gehabt und das hätte ich nicht einfach ignorieren können. Wann erlebte man schon mal einen ehrlich amüsierten, fröhlichen Mr Holmes?

„Mr Doyle lag meine Zukunft sehr am Herzen. Er machte sich lange Vorwürfe wegen des Einsatzes und respektierte meinen Wunsch, die Ausbildung ohne weiteren Aufschub zu beenden. Er hat sich damals um die Bürokratie gekümmert und die richtigen Leute von meiner Verschwiegenheit und meiner Aufrichtigkeit überzeugt", erinnerte ich mich an seine vorherigen Worte und fing gleich an zu plappern. Ich war nervös.
„Es tut mir leid, was Ihnen damals passiert ist", hörte ich ihn plötzlich sagen, woraufhin ich überrascht den Kopf hob. Aber in seinem Blick konnte ich kein Kalkül, keine List finden.
„Vermutlich hatte er gehofft, dass ich eines Tages doch zurückkehren würde oder die Dokumente für einen anderen Job benötigen würde, bei dem ich mich nicht mit einem gefälschten Lebenslauf bewerben würde", sagte ich schnell, bevor ich mich zu sehr in den Gedanken über Mr Holmes verlor.
Mein Gegenüber nickte nur stumm und ich nutzte die Gelegenheit, um meine Zigarette auszudrücken und mein Glas auszutrinken.
Die Situation war zwar nicht unbedingt unangenehm, jedoch hatten mich diese wenigen etwas zu intimen Momente verunsichert. Ich wusste nicht, wie ich mit diesem Mycroft Holmes, den ich an diesem Abend kennengelernt hatte, umgehen sollte. Ich konnte ihm nicht mit Zynismus, Distanz und Gefühlskälte begegnen, denn er selbst gab sich plötzlich empathisch und emotionaler als ich es je erwartet hätte. Dabei war ich mir nicht einmal völlig sicher, ob sein geändertes Verhalten lediglich am Alkohol lag.

„Wenn Sie mir keine Fragen mehr zu stellen haben, würde ich mich auf den Rückweg machen", traute ich mich endlich zu sagen und zupfte imaginäre Fussel von meiner Bluse, bevor ich mich bereits erhob.
„Ich fand damals nicht Ihr Kleid schön. Ich fand Sie schön."

Überrumpelt und verständnislos blickte ich auf Mr Holmes hinab, der nach seinen Worten unbewegt auf den Boden sah, wodurch es mir so vorkam, als hätte er die letzten Worte nie gesagt.
Abgesehen davon, wusste ich nicht, was ich tun sollte.
Er hatte so aufrichtig, beinahe verletzlich geklungen und vermutlich hatte es ihn einiges an Überwindung gekostet, mir dieses verspätete Kompliment zu machen.
Nervös begann ich vor mich hinzudrucksen, während Mr Holmes seine Zigarette ausdrückte, um wieder nach seinem Glas zu greifen.
„Ich sagte damals, Ihr Kleid sähe gut an Ihnen aus, aber das meinte ich nicht", er trank einen Schluck, „ich meinte, dass Sie selbst bezaubernd aussahen."
Sein Ton klang so, als würde er sich über seine eigene Wortwahl oder auch seine Gefühle lustig machen und tatsächlich hätte auch ich nicht erwartet, dass Mr Holmes jemals ein Wort wie „bezaubernd" benutzen und ernstmeinen würde. Dass er es nun in einem Kompliment an mich tat, ließ mich berührt lächeln. Meine Augen brannten. Ich musste blinzeln.
„Die Visitenkarte, die Sie von mir bekommen haben, war die Einzige, die ich je besaß. Wem hätte ich auch eine geben sollen?"
Bei seinen letzten Worten vergrub Mycroft sein Gesicht in seinen Händen und in mir wand sich etwas vor Mitleid. Was auch immer ihn zu diesem plötzlichen Ausbruch und zu dem langen Zurückhalten der Gefühle gebracht hatte, musste ihn tief verletzt haben.
Hätte mein Körper sich nicht verselbstständigt und eine völlig unerwartet Reaktion meinerseits hervorgebracht, hätte ich nicht gewusst, wie ich reagieren sollte und wäre vermutlich eine ganze Weile lang wie angewurzelt stehengeblieben.

Ich ging beinahe schleichend die paar Schritte um den Tisch herum und ließ mich auf der Lehne von Mycrofts Sessel nieder, bevor ich nach seinen Händen griff, um sie von seinem Gesicht zu ziehen.
Der Blick, den er mir nun zuwarf, ließ den Kloß in meinem Hals größer werden. Es lagen viel zu viele Emotionen in diesem Blick, um das Chaos, das in diesem Mann zu wüten schien, in Worte fassen zu können.
Mycrofts Finger schlossen sich um meine Hand in seinem Schoß, während ich die zweite hob, um sie wieder an seine Wange zu legen.
Ich konnte das Ticken seiner Taschenuhr in seiner Westentasche hören, so nah war ich ihm, bevor ich ihn küsste und vergaß, wer wir eigentlich waren.

Seine Küsse waren sanft und dennoch lag in ihnen eine Verzweiflung, von der ich nicht gedacht hatte, sie jemals beim Küssen zu spüren.
Mycrofts Lippen waren überraschend weich und fühlten sich so richtig auf meinen an, obwohl ich mich bei genauerem Nachdenken vermutlich darüber gewundert hätte, dass ich mich bei dieser Intimität so wohlfühlte.
Nach einer Weile befreiten wir uns aus der eher unbequemen Stellung, in der wir uns befanden, indem Mycroft seine Umklammerung um meine Hand löste und seine Arme um meine Hüfte und meine Taille schlang, um mich langsam auf seinen Schoß zu ziehen.
Ich nutzte die neue Position gleich aus, um mich näher an ihn zu drücken und meine Hände in seinem Nacken zu verschränken. Vermutlich hätte ich mich unter anderen Umständen dafür geschämt, dass ich wie ein unreifer Teenager in Mycrofts Schoß hing.

Meine Gedanken flogen allerdings nur so an mir vorbei, ohne dass ich sie wirklich denken konnte. In meinem Kopf herrschte weder richtiges Chaos noch eine vollkommene Leere; es war irgendetwas dazwischen, was ich nicht greifen konnte. Mir war lediglich bewusst, dass ich einen Kuss noch nie als so intensiv empfunden hatte.
Mycroft küsste abwechselnd Ober- und Unterlippe, saugte kurz an ihnen oder bewegte seine Lippen einfach nur gegen meine, wobei seine Hand, die in meinen Nacken gewandert war, einen wunderbaren Gegendruck erschuf.
Irgendwann fand meine Zungenspitze Mycrofts Lippen, worauf er sofort reagierte, indem er seinerseits den Mund weiter öffnete, damit sich unsere Zungen treffen konnten.

Es war genau dieser Kontakt, der den Gedanken daran, dass ich zu weit ging, durch mich schießen ließ.
Abrupt löste ich mich von Mycroft und starrte ihn an, bevor ich auch meine Arme von ihm wegzog und sie ungeschickt an meinen Körper presste.
Mein Blick wurde mit dem gleichen Unglauben erwidert, der vermutlich auch in meinem Gesicht geschrieben war, jedoch glitten Mycrofts Hände nur langsam von meinem Körper, was ein Schaudern über meine Wirbelsäule jagte.

Ich wusste, dass ich irgendetwas hätte sagen sollen, schließlich war ich diejenige gewesen, die den Kuss beendet hatte. Ich war diejenige, die Mycroft losgelassen hatte.
Aber nun, da alle Gefühle und Gedanken über mich hereinbrachen, konnte ich keine sinnvollen Worte formulieren. Ich dachte eigenartigerweise nicht einmal daran, etwas zu sagen, sondern glitt nur langsam von seinem Schoß, während ich weiterhin in seine blauen Augen sah.
Das Ticken seiner Taschenuhr trieb mich fast in den Wahnsinn.
Als ich stand und dachte, meine Beine würden mich keinen Schritt tragen, drehte ich mich einfach um und rauschte aus dem Wohnzimmer, um an der Garderobe nach meinem Mantel zu greifen und das Haus so schnell wie möglich zu verlassen.

Es dauerte, bis ich halbwegs realisiert hatte, was passiert war. In mir hatte sich ein Automatismus abgespielt, sodass ich bereits in einem Taxi saß, als ich einmal kurz erstarrte, um dann perplex aus dem Fenster zu sehen, ohne die Umgebung wahrzunehmen.
Auf meinen Lippen haftete noch immer der Geschmack nach Whiskey und Zigaretten und ... Mycroft Holmes.

Ich kam schnell bei meiner Wohnung an und gab dem Taxifahrer vermutlich viel zu viel Trinkgeld, nur weil mir das Nachdenken darüber gar nicht mehr möglich war.
Aber die Situation mit Mycroft konnte ich nicht beginnen zu verarbeiten; ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte.
Sollte ich bei dem seltsamen Anruf anfangen, bei seinem Blick auf meine Lippen, welche die Zigarette hielten? Sollte ich zuerst über die vielen Gläser Whiskey oder Mycrofts ehrliche Worte nachdenken? Über sein beinahe herzliches Lächeln?
Oder sollte ich mich eher fragen, wieso ich so gehandelt hatte und wo diese ganze Sache ihren Ursprung hatte?
Musste ich mich mit dem beschäftigen, was er damals auf der Hauptversammlung gesagt hatte oder mit dem, was er eigentlich hatte sagen wollen?
Dachte Mycroft an mich?

~°°°~


Mrs Doyle rief mich einige Tage später an, um mir zu erzählen, wie sehr sie ihr Haus vermisste. Natürlich hatte sie die Zeit mit ihrer Familie genossen, aber sie betonte auch, dass es sie hin und wieder genervt hatte, als besseres Kindermädchen gesehen zu werden.
Zugegebenermaßen war es mir relativ gleichgültig, wieso Mrs Doyle wiederkommen wollte. Ich dachte sogar kaum darüber nach, dass sie noch immer in Gefahr sein könnte, sollte noch einmal nach dem USB-Stick gesucht werden.
Ihre Rückkehr bedeutet für mich eine so willkommene Ablenkung, dass ich mich mit so viel Motivation und gutem Willen in meine Arbeit stürzte, dass Mrs Doyle sich sogar darüber wunderte, wie sauber und ordentlich alles war, als ich sie endlich wieder begrüßen durfte.

Lügenleben || Mycroft HolmesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt