18. Kapitel: Der dritte Brief

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Es dauerte seine Zeit, bis ich wieder einigermaßen hergestellt war und die Erlebnisse so weit verarbeitet hatte, dass ich nicht jedes Mal Kopfschmerzen bekam, wenn ich an jene Stunden dachte.

Mrs Doyle bat mich darum, die Tage bei ihr zu verbringen, obwohl ich kaum arbeiten konnte. Doch die Gesellschaft tat offenbar uns beiden gut.
John telefonierte zudem beinahe jeden Tag mit mir, was mich zudem bei Laune hielt und hin und wieder schaffte ich es sogar, ein paar Details zu den Ermittlungen aus ihm herauszubekommen.

Ich konnte nicht leugnen, dass es in dieser Zeit mehrmals vorkam, dass ich an meinem Verstand zweifelte. Die vielen Widersprüche, die der ganze Fall um den USB-Stick aufgeworfen hatte, zermürbten mir den Kopf und ich musste mir eingestehen, dass mich die Entführung, die für mich im Nachhinein sehr glücklich ausgegangen war, doch mehr beschäftigte, als ich zugeben wollte.
So war Mrs Doyles Gesellschaft eine willkommene Ablenkung.
Besonders fiel mir das in den Nachtstunden auf, in denen ich schlaflos in meinem Bett lag.
Das erste Mal in meinem Erwachsenenleben wünschte ich mir, dass ich nicht allein wohnte und das, obwohl ich immer so zufrieden mit meinem Alleinsein gewesen war.

Die vielen Sorgen erleichterten es mir nicht gerade, mich von der kräftigen Erkältung zu erholen, die mir die Unterkühlung beschert hatte.
Tagelang wurde ich von Schnupfen, Glieder- und Halsschmerzen geplagt, während ich nach jeder Treppe, die ich hinaufstieg, das Gefühl hatte, künstlich beatmet werden zu müssen.
Es dauerte eine Weile, bis ich Mrs Doyles Haushalt wieder annähernd so führen konnte, wie ich es gewohnt war.

Eine weitere Sache, die mich sehr beschäftigte, waren die Aussagen, die ich noch vor Gericht würde tätigen müssen, der Tote und Mycroft.
Gerichtsverhandlungen waren in meinen Augen schon immer viel zu formalisiert und bürokratisiert. Meine Anwesenheit würde niemandem etwas bringen und natürlich war ich die Betroffene, jedoch hätte ich mich deutlich wohler damit gefühlt, wenn man sich einfach im Stillen um die Sache gekümmert hätte. Auf das Sprechen in einem vollen Saal, in dem ansonsten Totenstille herrschte, konnte ich getrost verzichten.

Über den Getöteten machte ich mir tatsächlich das erste Mal Gedanken, als die Ereignisse schon mehrere Tage zurücklagen.
Denn auch erst dann traten die Erinnerungen an Mycroft und seine Rolle in dem Geschehen in mein Gedächtnis.
Mycroft war aber letztendlich nun derjenige gewesen, der mich vor Schlimmerem bewahrt hatte, schließlich hatte der Kerl auf mich geschossen. Er war dazu bereit gewesen, mich zu töten und im Gegenzug hatte Mycroft auf ihn geschossen. Und getroffen.
Ich erinnerte mich nur schwammig an die ganze Situation, was nur verständlich war, schließlich hatte ich noch nie zuvor eine solche Todesangst fürchten müssen.
Dennoch hatte ich noch das genaue Bild vor Augen, als ich mich umgedreht hatte und den leblosen Körper am Boden gesehen hatte.

Mycroft war mir zur Hilfe geeilt, hatte mich zu Boden gerissen und mich mit seinem Körper vor möglichen Kugeln geschützt. Er hatte auf meinen Verfolger geschossen. Er hatte einen Menschen für mich getötet.

Wenn ich daran dachte, wie er schützend seinen Arm über meinen Kopf gehalten hatte und wie er besorgt gefragt hatte, ob ich verletzt hatte, tat sich eine Schleuse in meinem Innern auf, die für einen Moment Wärme und Glücksgefühle durch meinen Körper strömen ließ.
Ich wollte es nicht zugeben und es war viel zu klischeehaft und simpel, als dass ich es einfach so hätte akzeptieren können, aber Mycroft hatte mich beschützt, mich gerettet und das hatte mich meine Meinung zu ihm überdenken lassen.
Der stolze, steife Mycroft Holmes hatte sich für mich die Hände schmutzig gemacht und nach dem, was mir erzählt worden war, hatte er auch einen entscheidenden Teil dazu beigetragen, dass ich überhaupt gefunden worden war.
Wie er jedoch darauf gekommen war, dass ich entführt worden war, blieb mir schleierhaft, schließlich hatte ich keinerlei Kontakt mit ihm gehabt und ich bezweifelte, dass er einen Posten in Nähe meiner Wohnung abgestellt hatte, um mich zu überwachen.

Ich wollte mich bei ihm bedanken, obwohl mir klar war, dass es ziemlich an meinem Ego kratzen würde und Mycroft sich mir gegenüber weiterhin abweisend verhalten würde. Seine Worte über unseren Kuss (Oder waren es eher Küsse gewesen?) hatten meinen Bemühungen in jeglicher Hinsicht einen Dämpfer versetzt und es fühlte sich weniger denn je so an, als wären wir tatsächlich ebenbürtige Menschen.
Dennoch verlangten mein Gewissen und meine Erziehung es, dass ich ihm zumindest mit wenigen Worten dankte. Was aus dem Gespräch werden sollte, wollte ich spontan sehen. Ich hatte mir schließlich schon zu sehr den Kopf über alles zerbrochen, was mit diesem Mann zu tun hatte.

Am nächsten Wochenende war ich wieder einigermaßen hergestellt und fühlte mich jenem Telefonat gewachsen.
Mrs Doyle hatte eine Einladung zum Abendessen erhalten, weshalb ich ihr Haus frühzeitig verließ und den ganzen Abend zu meiner freien Verfügung hatte.
Nach einem ausgedehnten Essen zwang ich mich endlich dazu, die Nummer von der Visitenkarte zu wählen.
Ich wippte nervös mit dem Knie auf und ab und setzte mich kurz hin, nur um sofort wieder aufzustehen, als er tatsächlich abnahm.
„Ms Ferrars?", meldete er sich unvermittelt, wobei er weniger abweisend klang, als ich erwartet hatte.
„Hallo", entgegnete ich zögerlich und rang ein paar Sekunden lang mit meinen Worten.
„Ich hoffe, ich störe nicht."
„Ich arbeite", lautete die schlichte Erwiderung. Mycrofts Stimme war bar jeglicher Emotionen, was mich noch mehr verunsicherte.
„Dann will ich Sie nicht lange aufhalten", ich lachte nervös, „aber ich sah es als angebracht, mich bei Ihnen zu bedanken, schließlich haben Sie mir – so pathetisch es auch klingen mag – das Leben gerettet."
Ich hatte mich überwunden und kniff vor Peinlichkeit kurz die Augen zusammen. Schlimmer hätte ich es auch gar nicht formulieren können!
Und Mycroft ließ sich Zeit mit einer Antwort.
„Ich habe die Mittel und Wege, also wäre es wohl mehr als moralisch verwerflich, hätte ich Ihnen nicht geholfen", sagte er dann und ich musste tatsächlich kurz lächeln. Natürlich würde er eine solche Antwort geben.
Kurz musste ich an Sherlocks Worte darüber denken, dass Mycroft mich beschützen wollte, verdrängte die Gedanken aber schnell wieder. Sie hatten mich damals zugegebenermaßen ein wenig beschäftigt.
„Ich bin Ihnen trotzdem mehr als dankbar", beteuerte ich noch einmal.
Stille.
„Na ja, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend. Tut mir nochmal leid für die Störung", leierte ich herunter, bekam allerdings erneut keine Antwort.
„Auf Wiederhören", verabschiedete ich mich zügig und bekam noch eine knappe Verabschiedung von Mycroft.

Dann saß ich da und starrte mein Handy an.
Ich war enttäuscht und konnte gleichzeitig nicht sagen warum. Hatte ich mir mehr von dem Gespräch erhofft? Aber warum? Und was genau hatte ich erwartet?
Ich war schließlich diejenige gewesen, die Mycrofts Haus so überstürzt verlassen hatte und ihn vermutlich verunsicherter als je zuvor gemacht hatte.
Andererseits hatten seine Worte ausgedrückt, dass ihm die ganze Sache völlig egal gewesen war. Dann hatte es ihn wohl auch kaum beschäftigt, dass ich so überstürzt geflohen war, nachdem wir uns geküsst hatten.
Ich drehte mich weiter und weiter in dem Gedankenkarussell und sackte auf meinem Küchenstuhl zusammen.

Gerade stieß ich ein tiefes Seufzen aus, als mich das Klingeln meines Handys aus meiner Versunkenheit riss. Ich spürte, wie mich die Euphorie durchflutete, als ich Mycrofts Nummer auf dem Display wiedererkannte und strafte meinen Körper innerlich dafür.
Dann atmete ich tief durch und nahm ab.

„Mr Holmes?", meldete ich mich synchron zu seiner Begrüßung von vorher. Ein kleines Grinsen über mich selbst konnte ich mir nicht verkneifen.
Er räusperte sich und ich konnte mir bildhaft vorstellen, wie er gleichzeitig seine Krawatte zurechtrückte.
„Bei unserem letzten Gespräch hatte ich das Gefühl, dass Sie durchaus Ahnung von Whiskey haben und einen guten Tropfen zu schätzen wissen", sagte er dann so gestelzt wie eh und je.
In meiner Erinnerung hatte ich den Alkohol zwar genauso heruntergestürzt wie jeden anderen, jedoch bejahte ich dennoch.
„Ich lade Sie ein. Sie werden in zehn Minuten abgeholt", erklärte er dann und ich erwartete schon beinahe, dass er sofort auflegen würde.
„Okay", antwortete ich noch gedehnt und kniff etwas verunsichert die Augen zusammen. Ich war mir nicht sicher, ob mir ein weiteres Treffen allein mit ihm guttun würde.
„Gut, bis gleich", beendete er das Gespräch.
Langsam ließ ich das Telefon sinken und starrte einen Augenblick vor mich hin, bis ich realisierte, dass ich in weniger als zehn Minuten abgeholt werden würde und kaum vorzeigbar war.

Lügenleben || Mycroft HolmesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt