16. Kapitel: Shakespeare und seine Amateure

117 4 5
                                    

Ich hörte eine ganze Woche lang weder etwas von Sherlock noch von seinem Bruder.
Irgendwie hätte es mich auch gewundert, würde Mycroft nach unserer letzten Begegnung plötzlich den Kontakt zu mir suchen, aber so ganz beendet war die Sache schließlich trotzdem noch nicht. Trotz seiner eher unsensiblen Worte hatte ich nämlich das Bedürfnis danach, noch ein klärendes Gespräch mit ihm zu führen. So wie es nun war, fühlte es sich noch nicht richtig an.
Abgesehen davon konnte ich nicht verhindern, dass sich meine Neugierde immer wieder in den Vordergrund drängte und nach neuen Informationen verlangte.


John meldete sich einige Tage nach meinem Besuch in der Baker Street allerdings tatsächlich bei mir und wir plauderten eine Weile über dies und das. Er erzählte mir besonders viel von seiner Tochter und beschwerte sich über Sherlock, während ich von Mrs Doyles Rückkehr und ihren typischen Launen erzählte.
Ob er aus Taktgefühl nicht über Mycroft sprach, oder ob Sherlock es ihm tatsächlich nicht erzählt hatte, konnte ich nicht sagen. Ich war nur froh darüber, dass ich damit in Ruhe gelassen wurde, schließlich beschäftigte mich die ganze Sache auch so schon genug.


Mrs Doyle schien sich nach und nach tatsächlich völlig von dem Einbruch zu erholen und kehrte innerhalb dieser Woche zu ihrer alten Form zurück.
Nach ihrer Rückkehr standen natürlich zahlreiche Besuche an und ich hatte immer viel um die Ohren, schließlich mussten entweder Mahlzeiten für zusätzliche Gäste zubereitet werden oder Mrs Doyle wollte zu Bekannten gefahren werden.
Trotz dem Mehr an Arbeit war ich froh darüber, dass Mrs Doyle sich doch recht schnell erholte und sich wieder in London einlebte.


~°°°~


Am Ende der Woche war ich völlig erledigt und wollte am Abend nur noch in mein Bett kriechen, um am nächsten Morgen einmal auszuschlafen. Mrs Doyle war zum Brunchen verabredet und würde von ihrer Freundin abgeholt werden, weshalb sie mir den Vormittag freigegeben hatte.
Dafür war ich mehr als dankbar, schließlich vergaß die Dame hin und wieder, dass die Tatsache, dass ich ihr jede Mahlzeit zubereitete und da war, wenn sie aufstand und wieder ins Bett ging, bedeutete, dass ich täglich mindestens zwei Stunden weniger schlief als sie.
Dennoch war es auch ein gutes Gefühl, zu wissen, dass man etwas Wichtiges und Richtiges tat. Mrs Doyle lag mir schließlich auch am Herzen und ich genoss die Zeit, die ich mit ihr verbrachte.

So kam ich aber auch an jenem Abend erst nach elf Uhr nach Hause und hatte gerade noch die Kraft dazu, meinen Briefkasten zu leeren und meinen Anrufbeantworter abzuhören. Meine Eltern hatten mir eine Nachricht aufs Band gesprochen, nachdem ich sie bei meinem letzten Versuch nicht hatte erreichen können.
Während ich noch eine Kleinigkeit aß, beantwortete ich eine SMS meiner Schwester und blätterte die Post durch, wobei mir erst beim zweiten Mal ein handbeschriebener Umschlag auffiel, was wohl meiner Müdigkeit geschuldet war.
Mit gerunzelter Stirn las ich meinen Namen, der in geschwungener Schreibschrift auf den Umschlag geschrieben war.
Spontan rechnete ich mit einer Einladung zu einer Hochzeit oder Ähnlichem, weshalb ich den Umschlag eher genervt öffnete.

Schon die Form des Geschriebenen ließ mich aber innehalten.
Bevor ich die wenigen Zeilen las, huschte mein Blick zu den Initialen, die weiter unten auf dem auseinandergefalteten Blatt Papier standen. Ein unangenehmes Schaudern überlief meinen Rücken und ich schob angespannt meinen Teller von mir, um die Zeilen zu lesen.

„Wer einsam duldet, fühlt die tiefste Pein,
Fern jeder Lust, trägt er den Schmerz allein:
Doch kann das Herz viel Leid überwinden,
Wenn sich zur Qual und Not Genossen finden."


Etwas in meinem Bauch wand sich unangenehm und mir wurde augenblicklich schlecht, als ich das Blatt weglegte und mir angespannt über die Stirn rieb.
Einen Augenblick lang ließen mich die Worte an Mycroft denken, jedoch sorgte das schlussendlich für noch unangenehmere Gedanken, sodass ich schnellstens über Dringenderes nachdachte.
Schnell bemühte ich mein Handy, um herauszufinden, dass es sich erneut um ein Shakespeare-Zitat handelte. Diese Tatsache bescherte mir tatsächlich eine Gänsehaut, obwohl mir auch so schon klargewesen war, dass dieser Brief mit dem, den Mrs Doyle erhalten hatte, zusammenhängen musste.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, sprang ich auf und kramte den USB-Stick aus seinem Versteck hervor, nur um ihn kurzerhand in der Schublade mit meiner Unterwäsche zu verstecken. Es gab mir ein eigenartig sicheres Gefühl, ein neues Versteck gefunden zu haben, obwohl es keinesfalls sicherer war.
Dabei war die ganze Aktion völlig sinnlos, schließlich wusste ich doch genau, dass diejenigen, die den Stick haben wollten, nichts mit ihm anfangen könnten. Es würde vermutlich nicht einmal mir wirklich schaden, würde er ihnen in die Finger kommen. Warum versteckte ich ihn also?

Ich fand mich in meinem Wohnzimmer wieder und verbrachte einige Minuten damit, ziellos durch den Raum zu schreiten und mit dabei immer wieder die Haare zu raufen.
Es ergab einfach alles keinen Sinn mehr!
Nach den Gesprächen mit Mycroft und Sherlock hatte ich jedes Mal den Eindruck, als könnten die Daten, die früher auf dem Stick waren, ohnehin nicht so wichtig gewesen sein. Wieso machte sich also eine offenbar halbwegs organisierte Verbrecherbande die Mühe, einem USB-Stick nachzujagen, auf dem sich solche Daten befanden? Wem würden sie etwas nützen? Und was sollten diese verdammten Briefe?

Meine Hände wurden feucht und meine Bewegungen fahrig. Ich spürte, dass ich schneller atmete und meine Schritte hektischer wurden. Ich hatte Angst und das wurde durch die Tatsache, dass erst vor wenigen Wochen in meine Wohnung eingebrochen worden war, nicht gerade besser.
Diese ganze Situation hatte ich doch theoretisch schon einmal durchgemacht. Wieso reagierte ich also wieder so albern?
Wütend auf mich selbst machte ich mich wieder auf den Weg in die Küche, um nach meinem Handy zu greifen und Johns Nummer zu wählen.
Tatsächlich hob er nach einer Weile auch ab, enttäuschte mich allerdings sogleich wieder.
„Es tut mir leid, Julie, aber es ist gerade ganz schlecht. Rosie braucht mich. Ich rufe gleich zurück", sagte er und gab mir keine Chance, zu Wort zu kommen.
Perplex starrte ich noch einen Augenblick lang auf das Display, bevor ich mich nach ein wenig Herumspielen an meinem Handy dazu durchrang, Mycroft anzurufen.
Sicherlich kränkte das mein Ego und ich war mir sicher, dass er es würde benutzen können, um sich über mich lustig zu machen. Allerdings siegte in diesem Augenblick doch die Angst und ich erwischte mich dabei, wie ich mich nervös in meiner eigenen Wohnung umsah, während ich darauf wartete, dass er abhob.
Aber auch nach einem zweiten Versuch ging Mycroft nicht an sein Handy, was mich gereizt aufstöhnen ließ.

Die ganze Situation trieb mich in den Wahnsinn und nachdem John auch nach einer Viertelstunde nicht zurückgerufen hatte, schlüpfte ich in Schuhe und Mantel, steckte den Brief ein und verließ meine Wohnung.
Theoretisch war die ganze Sache völlig unlogisch, schließlich war es deutlich gefährlicher, nach Mitternacht in London unterwegs zu sein, als sich in seiner Wohnung einzusperren. Aber ich dachte in diesem Moment kaum noch logisch und wollte einfach nur aus dieser Enge heraus. Zudem wussten die Typen offensichtlich, wo ich wohnte, und trotz des neuen Schlosses wäre es ihnen sicherlich ein Leichtes, erneut in meine Wohnung einzubrechen.
Auf der Straße hatte ich wenigstens eine gewisse Fluchtmöglichkeit, wenn ich mir auch noch nicht ganz sicher war, wohin ich wollte. Natürlich wäre Johns und Sherlocks Wohnung die erste Wahl gewesen, jedoch traute ich mir selbst in dem Augenblick nur wenig. Die ganzen Zusammenhänge erschienen mir so unsinnig, dass ich meinem Verstand nicht mehr glauben konnte.
Wollte ich die beiden damit wirklich schon wieder nerven?

Mycrofts Haus kam eigentlich gar nicht in Frage. Hätte wirklich eine reelle Gefahr gedroht, hätte ich das Ganze vielleicht anders gesehen. Aber ich war mir sicher, dass ich den Brief bis zum nächsten Tag auch für mich behalten könnte und die Angst nur meinen Gedanken entsprang.

Doch ich blieb nervös und ängstlich.
Alle paar Meter sah ich mich um, ich schaute in jede schlechtbeleuchtete Querstraße hinein und hasste mich dafür, dass ich in der Hoffnung, irgendwelche Verfolger abschütteln zu können, nicht den direkten Weg zur Hauptstraße genommen hatte.
Dass ich innerhalb von zehn Minuten nur zwei anderen Personen begegnete, verstärkte meine Angst dann so sehr, dass ich anfing zu rennen, um schnellstmöglich unter Menschen zu kommen.

Schlussendlich sorgte das allerdings nur dafür, dass ich noch schneller von einem plötzlich auftauchenden Kerl umgerannt wurde, noch schneller einen harten Schlag an den Kopf bekam und noch schneller das Bewusstsein verlor.

Lügenleben || Mycroft HolmesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt